Bildnachweis: Hotel Washington - Colón – Public Domain
Anmerkungen zu Josephs Kopf
Einen klitzekleinen Augenblick war ich beim Lesen der Kurzgeschichte irritiert, denn Simenon schilderte, wie Touristen ein Schiff verließen und lenkte den Fokus auf ein Detail, das für Reisende bis vor wenigen Jahren typisch war: den um den Hals gehängten Fotoapparat. Ich fragte mich: Hatten die damals solche Fotoapparate? Dann: Touristen + Panama + 1930er-Jahre = reich!
Und ich konnte mich auf andere Sachen stürzen, denn die Geschichte bietet eine ganze Reihe von interessanten Aspekten, die zu beleuchten sich lohnt.
Im Zuge dessen habe ich auch die Beschreibungsseite neu zusammengefasst und eine neue Beurteilung hinzugefügt. Einerseits bin ich nun gerechter, was die Story angeht. Auf der anderen Seite werden die problematischen Gesichtspunkte an der Erzählung benannt.
Nun steht eine Neuveröffentlichung von »Die Geschichte von Josephs Kopf« gewiss nicht auf der Agenda von Kampa, obwohl sie zuletzt vor fünfunddreißig Jahren erschienen ist. Aber sollte sie es in einen neuen Geschichten-Sammelband schaffen und würde die Geschichte in der Form veröffentlicht werden, wie sie bisher vorliegt, hätte ich passenden Titel für das Buch: »Problematische Geschichten«.
Entschärfen lässt sich das durch eine neue Übersetzung schon. Niemand muss heute noch schreiben:
Der Neger Napo putzte [...]
Das bekommt man genauso elegant hin, in welchem einfach nur der Name genannt wird. Wird es für notwendig gehalten, die Hautfarbe zu thematisieren, wäre es gut möglich zu schreiben …
Napo, ein Schwarzer, putzte […]
… und nichts am Informationsgehalt würde verloren gehen. Gewiss habe ich an anderer Stelle schon erwähnt, aber ich würde solche Änderungen nicht an der wörtlichen Rede ändern. Täte man das, würde man das Zeitalter von Rassismus weißwaschen und das sollte nicht das Ziel sein.
Was zudem bleibt, ist die Tatsache, dass Simenon sich nicht wirklich in die Situation der Schwarzen und Mestizen hineinversetzte. An der transportierten Denkweise dürfte sich durch solche Korrekturen an der Übersetzung nichts ändern und man spürt den Geist der Zeit weiterhin.
Eine Institution
Der Baron, der bei Jules einkehrte, war ein guter Bridgespieler. Simenon schreibt ihm das Gebiet um das »Hotel Washington« als Jagdgebiet auf mögliche Spielgegner zu. Damit finanzierte er seine Alkoholsucht und er war auf die Fremden angewiesen, da ihm der Zugang zu einheimischen Spielrunden verwehrt wurde und in das Hotel kam er nur, wenn er eingeladen wurde.
Die genannte Herberge wurde am 23. März 1913 eröffnet. Bauherr war die Panama Railway Company in Colón. Es wurde in unmittelbarer Nähe zum Karibik-Ende des Panamakanals errichtet, womit man zum Ziel der Panamakanal-Reisenden wurde, die Interesse an einer komfortablen Unterkunft während eines Zwischenstopps hatten. Der Bau des Kanals hatte für ein internationales Publikum gesorgt, und das Hotel entwickelte sich schnell zu einer der nobelsten Adressen in ganz Panama. Zahlreiche prominente Gäste und Würdenträger stiegen hier ab.
Das »Hotel Washington« war bekannt für seine elegante Architektur (einen Eindruck kann man im Teaserbild gewinnen) und seinen Salzwasserpool, der bis heute genutzt wird.
Noch immer zeugt das Haus von kolonialer Geschichte – Besucher schätzen die Atmosphäre und die zentrale Lage im Geschäftsviertel von Colón. Battery Morgan liegt nur wenige Gehminuten entfernt, zur Freihandelszone sind es etwa zehn Autominuten. Heute verfügt das Haus über ein angeschlossenes Casino und zählt weiterhin zu den Wahrzeichen der Stadt.
Auch ich hätte Vorbehalte
Das Hotel war der angenehme Part in diesem Abschnitt. Der bei Jules gestrandete Bridge-Spieler nahm in der Bar nicht eines der edleren Getränke zu sich, er bestellte einen Chicha.
Ich brauchte mich nicht dumm zu stellen, denn ich wusste wirklich nicht, was Chicha ist. Der Name des Getränkes sorgte für gewisse Assoziationen, die aber beim Nachlesen komplett zerstört wurden. Weiter konnte ich von der Wahrheit nicht entfernt sein. Ich werde mich hier nicht blamieren und meine Assoziationskette offenzulegen.
Eines will ich aber preisgeben: Nachdem, was ich erfahren habe, glaube ich nicht, dass ich in einem abgelegenen Dorf in den Anden irgendetwas davon bei einem Dorffest trinken werde.
Dabei ist mir völlig egal, ob es schon von den Inkas konsumiert wurde. Mais als Basis mag lecker sein. Für die Tatsache jedoch, dass es traditionell von Frauen durchgekaut und dabei mit Speichel versetzt wird, kann ich mich nicht erwärmen. Die Spucke sorgt dafür, dass die Maisstärke zu vergärbarem Zucker gewandelt wird. Und dann bekommt man den Alkohol. So dringend kann ich diesen gar nicht benötigen, um mich darauf einzulassen.
»Schmeckt das denn, Chicha?« fragte die stets aufgedrehte Amerikanerin.
»Es schmeckt widerlich! Der richtige Name ist Chicha de mucos, weil die alten Eingeborenen dieses Getränk herstellen, indem sie Mais kauen und ihn in ein Tongefäß spucken, wo er gärt…«
In der Zeit, in der Simenon die Gegend bereiste, wurde der Stoff aber noch traditionell hergestellt. Der verwendete Begriff leitet sich von »moco« (Schleim/Speichel) ab und bezeichnet explizit die speichelfermentierte Variante. Simenon dokumentiert damit eine in Panama damals gebräuchliche Bezeichnung und fängt gleichzeitig die typisch europäische Haltung ein: Das Getränk wird als »widerlich« beschrieben, wobei der Ekel wohl mehr der Herstellungsmethode als dem tatsächlichen Geschmack gilt.
Der Geschmack wird als säuerlich, leicht hefig beschrieben; die Konsistenz als trüb und dickflüssig. Für Bier- und Weintrinker wird der Geschmack ungewohnt und gewöhnungsbedürftig sein – erdig, sauer, mit einer gewissen Schwere. Manche vergleichen es mit saurem Brottrunk oder ungefilterten belgischen Lambics. Hätte gerade die letzte Ähnlichkeit nicht Simenon ansprechen müssen?
In weiten Teilen von Panama wurde das Getränk ohne Fermentierung hergestellt – womit die Spucke-Komponente entfällt.
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Entwarnung kann ich auch für Mittel- und Südamerika-Touristen geben: Heute wird das Getränk in industriellem Maßstab hergestellt. Die Fermentation unterscheidet sich deutlich von dem geschilderten traditionellen Verfahren.
Industrielle Enzyme übernehmen oft die Aufgaben des Mälzens oder sogar der Speichelfermentation. Die Gedanken, dass unzählige Frauen in einer Fabrik sitzen, auf Maisgebäck herum kauen und mit Speichel versorgen, können wir gleich wieder aus dem Gedächtnis verbannen. Heute sorgen Enzyme für eine beschleunigte und standardisierte Umwandlung der Rohstoffe.
Statt Tongefäßen kommen im modernen Produktionsprozess hygienische Edelstahlbehälter zum Einsatz. Erinnert ein wenig an die Bierproduktion hierzulande. Da gab es auch gewisse Fortschritte über die Jahre. All die Verbesserungen sorgen für kürzere Fermentationszeiten, denn die optimierten Prozesse beschleunigen die Herstellung erheblich. (Auch so ein Gedanke, den ich hatte: Geht der Speichel nicht mal aus?)
Nicht so gesund, aber sicher aus unternehmerischer Sicht praktisch: Nicht selten werden Zucker oder andere Zusätze bei der Herstellung beigemischt, um den Geschmack des Endprodukts gezielt anzupassen.
Kurzer Einwurf
»Sein Bruder Joseph, der Jüngere, kam zuerst nach Colón. Er wollte Équateur, Peru und Chile bereisen .... [...]«
Was ist denn da bei der Übersetzung passiert? Schon seit dem 19. Jahrhundert wird Équateur in Deutschland mit Ecuador übersetzt. Das wirkt besonders komisch in einer Reihe mit anderen eingedeutschten Ländernamen.
Die Sache mit dem Schrumpfkopf
»Ein Menschenkopf… Haben Sie nie davon gehört? ... Die Jivaro-Indianer, die noch heute im tropischen Urwald leben, schneiden ihren Feinden die Köpfe ab und präparieren sie so, dass sie auf die Größe eines Apfels einschrumpfen, ohne etwas von ihrem Ausdruck zu verlieren… Trocken, sauber und glatt wie Leder… Und die Haare behalten ihre Länge…«
[...]
»Was habe ich Ihnen gesagt? Das Erstaunlichste daran ist, dass es sich um den Kopf seines Bruders handelt… Ich habe Ihnen davon erzählt… Man hat ihn gerade im Schaufenster eines Mannes entdeckt, der allerlei Trödel verkauft… Mimile hat ihn im Auftrag eines Kunden erstanden…«
Erst einmal hört sich das ziemlich schräg an. Fest zu halten bleibt jedoch, dass Simenons Darstellung historisch fundiert ist.
Das Schrumpfen von Köpfen bei den Jivaro-Indianern (heute werde sie Shuar genannt) war ein ritueller Akt. Die kurze Schilderung ist dabei korrekt bis hin zu der Größe der entstandenen Objekte.
Die Jivaros leben im Amazonastiefland östlich der Anden. Schaut man sich das auf der Karte an, lässt sich leicht erkennen, dass der Transport nach Panama nicht trivial war. Von Ecuador bis zum Kanalland kann man kinderleicht mit dem Schiff reisen – aber das Gebirge stellt ein natürliches Hindernis dar. Offenbar war das nicht übermäßig störend und das Geschäft ausreichend gewinnbringend, dass sich der Handel bis nach Mittelamerika getrieben wurde.
Der Verkauf von Schrumpfköpfen nahm in den 1930er-Jahren derart überhand, dass in Ecuador der Gesetzgeber eingriff und den Handel verbot, um dann überrascht zu sein, dass dies zu einem florierenden Schwarzmarkt führte.
Ein anderer Knackpunkt: Die Gesichtspunkte, die dem Handel hinderlich sein konnten, hätten auch das Verschwinden von Joseph, das der Geschichte zugrunde liegt, gestört.
»So ein Bursche! ... Er muss in den Urwald gegangen sein... Mit wem? Um auf die Jivaros zu stoßen, mußte ...«
Die geografischen Gegebenheiten sprechen dagegen, dass Joseph einfach aus Colón herausmarschierte und – schwupps – bei den Jivaros war und sich den Kopf abschneiden ließ. Luftlinie waren es etwa 1.000 Kilometer. Seine Reise wäre aufwendig und schwierig gewesen.
Gegen den geschilderten Sachverhalt sprechen auch die damaligen Gewohnheiten der Jivaros: Sie knöpften sich Stammesfeinde vor und nicht irgendwelche Weißen, die plötzlich in ihrem Gebiet standen.
So haben wir es mit einer ethnologisch korrekten Darstellung, die uns Simenon liefert, die historisch auch plausibel ist. Allerdings haben die praktischen Umstände von Josephs Tod nicht den gleichen Grad an Authentizität.


Dieses umfassende Werk vereint detaillierte Informationen über Simenons Werk, und ist ein unverzichtbares Nachschlagewerk für Sammler und Fans. Der erste Band der Simenon-Bibliografie – über die Maigret-Ausgaben – erschien am 31. Mai 2024.