Anisette

Der Drink des Zahnarztes


Porquerolles hatte eine merkwürdige Wirkung auf manche Menschen. Einer, der wusste wovon er sprach, war ein ehemaliger Zahnarzt. Der im Roman namenlos bleibende Mediziner hatte ein Wort für das Symptom erfunden: »Porquerollitis«. Er litt unter dieser »Krankheit« und hatte nach seinem ersten Aufenthalt nur noch einmal die Insel verlassen: um seine Praxis aufzulösen.

Auch der Insel-Arzt, von dem Maigret gehört hatte, litt an diesem Symptom. Er war gekommen, um sein »echtes« Leiden zu kurieren oder zumindest zu lindern, und war geblieben. Besser war es nicht geworden und manchmal tauchte der Arzt für viele Tage ab. Aber wäre er geblieben, wenn er sich nicht wohlfühlen würde auf der Insel? Genau! Maigret wurde angekündigt, ihm würde es ebenfalls so ergehen.

Den meisten Leser:innen wird es so ergehen wie mir. Sie haben auch den Eindruck, dass es viel um Müßiggang geht und viel um Alkohol. Die Leute, die die Insel zu ihrem Aussteiger-Domizil erkorten, hatten sich die verschiedensten Trink-Marotten zugelegt. Da war Bellam, ein ehemaliger Offizier der englischen Armee, der Champagner aus Biergläsern trank – glatter Kulturbolschewismus genau genommen. Oder die Leute, die sich mit dem verbotenen Pastis vergnügten, der zuvor schon Thema gewesen war. In diese Richtung ging auch die Vorliebe des Zahnmenschen, der sich nicht mehr damit zufriedengeben wollte, die Gebisse fremder Menschen zu begutachten, sondern lieber die Tage mit einem guten Buch auf seiner Veranda verbrachte und am Abend in der Kneipe Anisette schlürfte.

Unschwer zu erahnen, was nun kommen wird, nicht wahr?

Nicht grün, klar

Die Erinnerungen verschwinden mit den Jahren, aber ich würde behaupten, dass ich Pastis kennenlernte, als mein bester Freund seine »Liberté toujours«-Phase hatte und nicht nur das französische Kraut rauchte, sondern in Restaurants Pastis bestellte – dazu ein wenig Wasser. Ich probierte. Vielleicht muss man richtig erwachsen sein, um es zu mögen. Schnaps war nicht so meins, das kam erst später. Pastis habe ich nicht mehr angerührt, auch in Frankreich nicht.

Als es in diesem Maigret-Roman hieß, dass es den verbotenen Pastis in der Kneipe von Paul gab, nahm ich das interessiert zur Kenntnis und las mich ein wenig in das Thema ein, als Maigret jedoch wach im Bett lag und über das Erlebte sinnierte, da mein Weg zum Kaufen-Button nicht weit.

Er hatte nur ein einziges Glas Champagner getrunken, ansonsten vor allem Wein und schließlich, Gott weiß warum, Anisette.
Wer hatte den Anisette bestellt?
Ach ja, der Zahnarzt.

Wie wird der Anisette schmecken? Die Frage stand im Raum. Probieren geht über studieren, heißt es so schön. Das unterschreibe ich, solang es sich nicht um Grünkohl, Spinat oder Linsen handelt.

Ein wenig hatte ich mit der Besorgung gewartet, schließlich steht hier noch der Chartreuse, das Experimentierobjekt des Möbel-Maigrets. Aber haargenau an den wurde ich in dem gleichen Szenario erinnert, denn Maigret ging im Geiste die Bestellungen der einzelnen Gäste durch.

Monsieur Emile hatte seinen Tee bestellt, und vor Ginette stand ein winziges Glas mit grünlichem Likör.

Grüne Liköre gibt es wie Sand am Meer, aber vielleicht war es ein Chartreuse. Ginette hatte sie gewisse Ähnlichkeit mit Mademoiselle Clément – natürlich nur, was das Äußere anging –, es war nicht unwahrscheinlich, dass sie das süße Zeug mochte.

Zurück zum Anisette: Der Name verrät den Inhalt und ist keine falsche Fährte. Es handelt sich um einen Likör, der hell und süß daherkommt. Wenn man die Flasche öffnet, wird man vom Anis-Duft umgehauen. Deutlich wahrnehmbar wäre eine Untertreibung. Der Geschmack erinnert dank des massiven Zucker-Einsatzes an einen Anis-Bonbon und war damit angenehmer, als ich es zuvor angenommen hatte. Meinen Likör hatte ich in den Kühlschrank gestellt, so hatte er eine erfrischende Wirkung.

Der Kreis schließt sich

Seinen Ursprung hat das Anis-Kraut ursprünglich im östlichen Mittelmeerraum. Angebaut wird es heute in Gegenden mit gemäßigtem Klima, in Mitteleuropa und Mittelamerika sowie um das Mittelmeer herum. In der Presse wurde es bisher nicht thematisiert: Das Hauptanbaugebiet für Anis liegt in Südrussland – da es noch nicht auf der Presse-Agenda stand, haben die Leute Pastis und Ouzo nicht auf ihrer »Zu Horten«-Liste. (Ich bin gut davor, denn in meinem Kühlschrank steht auch noch eine nicht geöffnete Flasche Ouzo, die ich geschenkt bekommen habe.)

Traditionell wird Anisette durch das das Destillieren von Anis produziert, aber man kann die Liköre alternativ durch Mazeration herstellen. Das soll auf den entsprechenden Spirituosen vermerkt sein, aber meinem Untersuchungsobjekt steht das allerdings nicht. Das verwundert mit ein wenig, schließlich handelt es sich um ein Tröpfchen von Marie Brizard, die als Erfinderin des Anisette gilt. Sie hatte sich 1755 um einen kranken Seemann aus Westindien gekümmert und der gab ihr zum Dank das Rezept für einen Anis-Schnaps. Sie erfand daraus den Likör und hinterließ eine Firma, die heute ein Likör-Imperium ist. Aber halt auf ihren Anisette nicht schreibt, dass er destilliert wäre.

Interessant ist in dem Zusammenhang, wo sie den Anisette erfand. Brizard war die Tochter eines Fass-Schreiners und lebte in Bordeaux. Damit hätte sich der Kreis geschlossen – denn aus der Wein-Metropole stammte auch der Zahnarzt, der den Anisette in diesen Maigret eingeführt hatte.

Sucht man hierzulande nach dem Likör, wird mit dem Finger auf Frankreich verwiesen. Die Franzosen haben offenbar ihre Erfinderin vergessen und zeigen auf die Italiener. Diese wiederum sehen offenbar sich als Erfinder an. Der Likör, der in Italien unter dem Namen Anisetta bekannt ist, wurde erst 1830 kreiert. Auch heute schätzen die Italiener ihn noch und nehmen ihn gern mit einer Kaffeebohne. Oder schütten es gleich in einen Kaffee. Vergessen werden die Spanier, die auch eine Anislikör-Kultur haben – offenbar nehmen sie ihn so gern zu sich, dass sie einen kurzen Namen wählten: Anís.

Der Anis-Likör bordeaulaisen Ursprungs hat 25% Alkoholgehalt. Es ist besser, ihn im Kühlschrank aufzubewahren oder alsbald zu verschnabulieren.