Über die Story

Wenn ich Ihnen erzählen würde, dass an diesem bewussten Abend Maigret seine vierzigste Reistorte serviert bekommen sollte, wird ein Teil der Leserschaft, sich beim Lesen frage, wie ich denn darauf käme. Im Buch stände es, würde nicht weiterhelfen, schließlich scheint es nicht in jedem Buch zu stehen. In der Kiepenheuer-Ausgabe steht es nicht, in der Diogenes-Ausgabe ist diese Information zu finden. Im Detail habe ich nicht verglichen, aber die Sprache ist schon eine ganz andere: während es in der älteren Ausgabe »Der Arzt zuckte die Schultern.« heißt, wird in der neueren Variante des Buches gesagt »Dieses Mal war es der Arzt, der die Schultern zuckte.« Die Beispiele ließen sich wahrscheinlich endlos fortsetzen.

An dem Abend mit der vierzigsten Reistorte, die niemand vortrefflicher Zubereiten konnte als Madame Pardon, klingelt das Telefon des Doktor. Alle nehmen an, dass wie so häufig, der Doktor zu einem Patienten gerufen wird und auch die Frau des Arztes macht schon eine Geste, die bedeuten soll, gleich wird er seine Tasche nehmen und den Patienten besuchen. Aber dazu sollte es nicht kommen: Pardon beruhigte die Patientin und im Anschluss auch Maigret. Der Kommissar war es nicht gewöhnt, dass sein Freund nicht gleich losstürzte, aber Pardon erzählt ihm, dass es sich um Mann handelte, dem nicht mehr zu helfen war, der aber nicht bereit war, zu sterben. Er hatte ständig Schmerzen, wollte aber nicht ins Krankenhaus.

Man kann nicht jedem Helfen, wollte Pardon damit sagen. Wahrscheinlich war das der Auslöser dafür, dass Maigret anfängt seinerseits eine Geschichte zu erzählen. Über einen Fall zu berichten, der ihm wirklich am Herzen lag, ein Geständnis, besser vielleicht sogar eine Beichte.

Es ging dabei um den Fall Josset: eines Morgens kam ein Mann im besten Alter zu seiner Pariser Polizeiwache und berichtete, dass seine Frau umgebracht worden wäre. Der Inspektor schickt ein »Team« zum Tatort, und die bestätigt die Angaben des Mannes – es befindet sich eine Leiche in dem Haus. An diesem sehr, sehr frühen Morgen ist der Inspektor nicht zum Spaßen aufgelegt und ist wohl so übellaunig, dass er sofort den Mann – Adrien Josset – des Verbrechens verdächtigte. Der Mann, der den Mord meldet, kann durchaus der Mörder sein.

Noch an diesem Tag wird Josset zum Quai überstellt und gelangt somit in die Hände des Kommissar, der keinerlei Ahnung hat, worum es in dem Fall geht; nur soviel, dass ein Mord begangen wurde und er den ersten Verdächtigen zu verhören hat. Völlig unvoreingenommen geht er an den Fall heran, aber die Geschichte des Mannes erscheint ihm so glaubwürdig, dass sie schon wieder unglaubwürdig wirkt. Diese ganzen Verwirrungen, das Knäuel der Geschichte, kann Maigret nicht entwirren. Er sieht sich einem starken Druck ausgesetzt: die Öffentlichkeit ist noch am selben Tag gegen Josset eingestellt, dem Mann – so sieht es zumindest aus – der seine Frau nur ausgenutzt hat.

Adrien Josset stammt aus ärmlichen Verhältnissen und wurde von Christine erobert. Diese war mit nicht ganz dreißig Jahren schon verwitwet; ihr schwerreicher Mann war vor einiger Zeit gestorben. In Josset verliebte sie sich nicht sofort, es war eine Art Liebhaber. Mit der Zeit entwickelte sich etwas wie Eifersucht: Josset war auf ihre anderen Bekannten eifersüchtig, sie machte sich Gedanken um die Kundinnen von Josset – da könnte ja etwas dabei sein. (Was allerdings dann wirklich in Arbeit ausgeartet wäre, denn Adrien Josset arbeitete als Apotheker in einer solchen.)

Irgendwann kam es zu dem Punkt, wo sich beide klar waren, jetzt könnte man mal heiraten und da Josset nicht als Apothekenangestellter weiterarbeiten konnte, ergriff Christine die Gelegenheit und kaufte ihrem Mann ein Laboratorium. Diese Firma baute Josset mit viel Energie auf und machte sie zu einem der erfolgreichsten Unternehmen dieser Sparte in der Pariser Gegend. Das wurde aber von den alten Bekannten seiner Frau nicht so gesehen. Für die stellte es sich so da, dass die Frau ihrem Mann eine Firma kaufte, ihn unterstützte wo es ging und zum Schluss brachte er sie um. Zumal er sich auch noch ganz offen, ohne sich zu verstecken, eine Geliebte hielt: seine Sekretärin. Dieser Meinung, das ist das Problem für den Mann, schloss sich auch die öffentliche Meinung an.

Maigret, das wird in diesem Geständnis gegenüber seinem Freund klar, weiß sich keine Meinung zu bilden. Er sagt, es könnte sein, dass der Mann unschuldig ist, aber die Jahre bei der Polizei haben ihn abhärten lassen, und heute würde er es nicht mehr unterschreiben. Vielleicht ist es auch der Druck von draußen durch die Medien und der Druck von innen, in Person des Untersuchungsrichters Coméliau. Nicht zu vergessen, die schwindenden Kompetenzen.

»Im Laufe meiner Karriere habe ich zusehen müssen, wie unsere Befugnisse immer mehr zugunsten der Richter eingeschränkt wurden. Ob das gut ist oder schlecht, weiß ich nicht. So oder so ist es nie an der Polizei gewesen, ein Urteil zu fällen.

An dem Abend kann Maigret, der zum großen Teil Erhörtes und Gefragtes erzählt, seine Geschichte nicht beenden. Man trifft sich zu einem späteren Zeitpunkt bei den Maigret – Coq au vin steht auf dem Programm, von dem Madame Pardon jedes Mal ganz begeistert ist.