Neugierig auf den Nachtzug (III)


Bisher konnte man die Frage »Welchen Maigret soll ich zuerst lesen?« gefahrlos mit »Alle – vielleicht nicht den ersten offiziellen und den letzten aus der Reihe. Ach egal, alle.« beantworten. Mit der Veröffentlichung von »Maigret im Nachtzug« wird sich das ändern – und das liegt nicht einmal an der Geschichte selbst, die uns Simenon erzählt. Vielmehr halte ich den gewählten Buchtitel für problematisch.

Im ersten Beitrag dieser Reihe hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass es ein ehernes Gesetz hierzulande ist, dass jeder als Roman verkaufte Maigret-Titel mit dem Namen »Maigret …« verpackt wird. Aus Marketingsicht ist das eine nachvollziehbare Entscheidung. Die Leute sind daran gewöhnt. Heikel wird diese Entscheidung, wenn das, was versprochen wird, in der Verpackung nicht enthalten ist. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Leute in deutschen Landen zwar eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit hinnehmen, aber gegen die Senkung des Kakao-Anteils in der Schokolade auf die Barrikaden gehen, erscheint mir die Benennung der Geschichte in der klassischen, deutschen Maigret-Titel-Form in diesem Fall gewagt.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass das Ärger mit den Leser:innen geben wird. Und zwar Ärger in der Form: »Das ist gar kein Maigret!« (Der Kaiser ist nackt!)

Und ganz ehrlich? Den Leuten, die das behaupten, ist Recht zu geben. Das ist kein Maigret. Simenon hat das auch nie behauptet. Der Roman wurde von ihm nicht als Maigret-Roman konzipiert. Ich würde erwarten, dass das in einem Vor- oder Nachwort erläutert wird. (Obwohl ein Hinweis auf ein solches bisher im Verlagsprogramm nicht zu finden ist. Aber selbst mit einem solchen Hinweis: Der Gedanke, dass vor dem Kauf eines Buches das Vor- und Nachwort studiert wird, ist abwegig.)

Meine große Sorge gilt nicht den Leser:innen, die im November in die Buchläden stürmen oder jetzt schon den Titel vorbestellt haben – die werden sich informiert haben und wissen, dass das nicht ein »echter« Maigret ist.

Vielmehr geht es um die Leser:innen, die sich in einer Bahnhofsbuchhandlung einen Krimi greifen – und Maigret ist ein Krimi – jedoch beim Lesen feststellen, dass Inhalt und Erwartung nicht übereinstimmen. Hier ist zu befürchten, dass diese sich dann empört abwenden. (Und mir Mails schreiben, was das denn solle …)

Ein Nebenkriegsschauplatz: Die Maigrets wurden durchnummeriert. Bei der Veröffentlichung des Pre-Maigrets »Maigret im Haus der Unruhe« orakelte ich, dass eine Titulierung als 0. Fall eigentlich heißen würde, dass da nichts mehr kommt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man in den negativen Bereich gehen würde. Offensichtlich und nicht wegzudiskutieren: Das war ein Irrtum meinerseits. Es ist ein weiterer Roman aus dieser Ära im Anmarsch. Aber will man den Roman »Maigret im Nachtzug« nummerieren und wenn ja, wie?

Die Lösung wäre einfach gewesen: Man hätte den Unruhe-Roman nicht nummeriert. Und die anderen auch nicht. Aber wie heißt es so schön: »wäre, hätte, könnte, …« oder auch: »Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv.«

Wer wissen will, warum ich mich derart echauffiere, der müsste sich im Folgenden in ein Dickicht aus Spoilern begeben oder im November, nach dem Lesen des Romans, zurückkehren und sich dann meine Ansichten zu der Thematik durchlesen. Das ist als explizite Warnung vor Spaßverlust zu verstehen, falls man den Nachtzug-Roman auf der Lektüreliste hat … Und ich kann gar nicht genug betonen, dass ich dessen Veröffentlichung immer noch begrüße und hoffe, es kommt noch mehr.

Mehr über »maigret im nachtzug«

»Mademoiselle X...«

Ein unerwarteter Sieger

Da gibt es doch nichts zu sagen: Irgendwann erfand Simenon Maigret und dann entwickelte sich der Kosmos. Neue Figuren kamen von Zeit zu Zeit dazu und …

Kurz notiert

Kurz notiert (VII)

Weiß schon gar nicht mehr, wie ich die in der letzten Zeit immer wieder zu vermeldenden Verschiebungen einleiten soll. Gefühlt habe ich schon jede …

Maigret im Nachtzug (I)

Neugierig auf den Nachtzug (I)

Wäre alles nach Plan gelaufen, dann hielten wir die »Nachtzug«-Geschichte um Kommissar Maigret schon vier Monate in unseren Händen und wir hätten …

Verwandte Themen

Platzhalter

Neugierig auf den Nachtzug (I)

Wäre alles nach Plan gelaufen, dann hielten wir die »Nachtzug«-Geschichte um Kommissar Maigret schon vier Monate in unseren Händen und wir hätten …

Platzhalter

Kurz notiert (V)

Die Freunde der Reportagen, siehe vorherige Meldung, dürfen sich freuen, dass der Band »Vom Wasser aus« zwei Tage eher – also am 10. Juni – …

Kann man mit der Geschichte seinen Spaß haben?

Ja, das kann ich bejahen. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Simenon die Geschichte niederschrieb, war er kein Stümper mehr. Er wusste, wie er sein Publikum bedienen musste, und er schrieb für einen Markt, der offenbar eine Mischung aus Action, Liebe und Drama wollte. Dieser Mix wird wunderbar bedient, und es ist ein wenig so wie bei Indiana Jones, wo man sich auch immer fragt: »Was holt er denn jetzt noch hervor?« Auf der ganzen Klaviatur der Unmöglichkeiten, haarsträubenden Wendungen und großen Gefühle spielt Simenon. Wer es als Unterhaltungsroman versteht, der bekommt das Produkt, das ihm versprochen wird.

Ich gebe ganz ehrlich zu: Am Ende der Geschichte war ich ganz hin- und hergerissen und konnte gar nicht glauben, was für ein Ende Simenon dort lieferte. Oder um es anders zu sagen: Ein paar Jahre später hätte er sich das nicht mehr erlaubt! Obwohl ich so manches Mal die düsteren Enden von Romans durs beklagt habe, hat Simenon sich hier noch seiner Klientel und deren Moralvorstellungen ergeben.

Wer wird mit der Geschichte keinen Spaß haben?

Alle, die einen ernsten Krimi in der Tradition von Maigret erwarten, werden hoffnungslos enttäuscht werden. Kennt man die Entstehungsgeschichte, wird einem klar, dass diese Geschichte in der Tradition von vielem steht, jedoch nicht in der ernsten Art des Polizei-Kriminalromans, wie ihn Simenon später erfinden sollte.

Warum ist es kein Maigret?

Ich kann mit Gefühlen und Zahlen antworten: Der Roman ist in erster Linie eine Geschichte, die die Zerrissenheit von Jean zeigt, der zwischen zwei jungen Frauen steht. Die eine wartet zu Hause darauf, dass er sie erobert, und das geduldig. Martha verkörpert das Solide, was manche Menschen wünschen. Rita dagegen ist die Wilde, das Ungezähmte, mit Verbindungen in die kriminelle Unterwelt. Sie ist es, die ihn in Gefahr bringt. Andererseits will sie in eine solide, sichere Welt wechseln. Dass unterwegs ein Mord passiert? Geschenkt! Verrat und Liebe dominieren die Geschichte, ergänzt durch Action-Elemente und Verfolgungsjagden.

Maigret ist auch dabei, spielt jedoch eine absolute Nebenrolle. Nehmen wir als Beispiel den 0. Fall: Dort wird der Name Maigret über 230 Mal erwähnt. Die Nachtzug-Geschichte hat etwa den gleichen Umfang, aber Maigret wird in meiner zugegebenermaßen stümperhaften, nicht offiziellen Übersetzung nur 22 Mal erwähnt. Lässt nicht allein dieses Missverhältnis schon den Schluss zu, dass das keine Maigret-Geschichte ist? Die üblichen Befindlichkeiten des Kommissars, die Schilderung seiner Ermittlungen – alles das sind nicht Teil der Story. 

Im ersten Teil des Nachtzug-Romans wird er nur beiläufig erwähnt, im zweiten Teil spielt er keine Rolle, die die Geschichte voranbringt. Selbst nachdem er scheinbar der Story einen Schubs in eine Richtung zu geben scheint, zaubert Simenon eine Wendung aus dem Hut, die Maigrets Rolle wieder marginalisiert.

Das ist völlig in Ordnung, solange man die Geschichte nicht als Maigret-Story versteht.

Suggeriert der Titel nicht, dass der Kommissar während des Verbrechens oder bei der Ermittlung im Nachtzug ist? Ich hatte den Eindruck. Allerdings habe ich keine Anhaltspunkte gefunden (hier nochmal der Hinweis auf meine inoffizielle Übersetzung), dass Maigret im Nachtzug an- oder abgereist wäre. Mir drängt sich da die Frage auf, warum der Titel so gewählt worden ist, wie er gewählt wurde.

Mehr über »pre-maigret«

Maigret im Nachtzug (I)

Neugierig auf den Nachtzug (I)

Wäre alles nach Plan gelaufen, dann hielten wir die »Nachtzug«-Geschichte um Kommissar Maigret schon vier Monate in unseren Händen und wir hätten …

Maigret im Nachtzug (II)

Neugierig auf den Nachtzug (II)

Maigret ist Teil der mobilen Brigade, und als Assistent wurde ihm der allseits bekannte Torrence zugeteilt. In dieser Geschichte befinden wir uns in …

»Mademoiselle X...«

Ein unerwarteter Sieger

Da gibt es doch nichts zu sagen: Irgendwann erfand Simenon Maigret und dann entwickelte sich der Kosmos. Neue Figuren kamen von Zeit zu Zeit dazu und …

Verwandte Themen

Platzhalter

Neugierig auf den Nachtzug (II)

Maigret ist Teil der mobilen Brigade, und als Assistent wurde ihm der allseits bekannte Torrence zugeteilt. In dieser Geschichte befinden wir uns in …

Platzhalter

Neugierig auf den Nachtzug (I)

Wäre alles nach Plan gelaufen, dann hielten wir die »Nachtzug«-Geschichte um Kommissar Maigret schon vier Monate in unseren Händen und wir hätten …

Wem würde ich das Buch schenken?

Für die absoluten Maigret-Fans: Jene, die schon immer mehr haben wollten. Ihr Wunsch ist mit der Veröffentlichung sicherlich in Erfüllung gegangen, und sie hoffen wahrscheinlich auf noch mehr. Hoffentlich wird dies auch der Fall sein.

Auch für die Simenon-Liebhaber:innen, die sich für sein gesamtes Werk und Leben interessieren. Diejenigen, die sehen wollen, wie sich der Schreibstil des Autors entwickelt hat.

Vielleicht auch für Menschen, die Freude an Unterhaltungsliteratur im zuvor geschilderten Genre-Mix haben – mit dem Hinweis, dass es sich um ein historisches Werk handelt.