Pathologie – Schwarzes Meer in Bremen

Zeigten die Bremer sie her?


Maigret glaubte einen Namen zu haben, nachdem er den Pass des Mannes hatte, dessen Koffer er geklaut und den er von Brüssel nach Bremen verfolgt hatte. Bei näherer Betracht musste er feststellen, dass er ein gefälschtes Dokument vor sich hatte. Mitnichten wusste er, wer der geheimnisvolle Fremde war. Für den Gewinn weiterer Erkenntnisse begab er sich ins Leichenschauhaus der Hansestadt.

Die Idee, dass das Wort »Leichenschauhaus« etwas mit der »Leichenschau« zu tun haben könnte, ist nicht so weit hergeholt. Schließlich gab es Leichenschauen schon seit dem 13. Jahrhundert. War jemand gestorben, dann wurde nachgeguckt, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Dieser »Brauch« wurde mal mehr, mal weniger intensiv gepflegt. Heute ist das alles in Gesetzen geregelt und waren die Verbrecher sehr nachlässig und haben die passenden Spuren hinterlassen, kann sich jede und jeder sicher sein, dass mindestens zweimal raufgeschaut wird.

Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist das Schauhaus nicht erwähnt, dort sind nur die »Leichenhalle« und das »Leichenhaus« zu finden. Beides Gebäude, die eher an einem Friedhof angesiedelt sind, und mit dem offiziellen Prozedere einer Ermittlung wenig zu tun haben. Üblicherweise hatte man die Verstorbenen zu Hause aufgebahrt und dann in einer Prozession zum Friedhof zur Beerdigung gebracht. Die Zeiten änderten sich im 18. und 19. Jahrhundert – als Erklärung für die »Popularität« von diesen Aufbewahrungsstätten dienen zwei Aspekte: Die wohnliche Situation wurde immer beengter und schon aus hygienischen Beweggründen, gerade in Seuchenzeiten, wollte man den Leichnam nicht mehr »bei sich« haben. Ein weiterer Grund war, dass die Städte erheblich wuchsen und somit die Wege vom Trauerhaus zum Friedhof immer weiter wurden – die langen Strecken bei der Trauerprozession wollten die Menschen nicht mehr auf sich nehmen.

Das »Schauen« kam erst später dazu. In Paris entstand die erste »Morgue« am Quai de l'Archevêché – die Überlegung der Verantwortlichen war, dass die unbekannten Toten – seien es Ermordete, Verunglückte oder Selbstmörder gewesen – vielleicht noch identifiziert werden können. Im Falle der Ermordeten wäre es zudem einfacher, die Fälle aufzuklären, wenn man die Namen und die Herkunft wüsste. Die Darstellung der Leichname hatte einen ähnlichen Charme wie öffentliche Hinrichtungen: Sie waren gut besucht. Mag die Überlegung gewesen sein, dass nur Leute kommen, die sich jemanden vermissen oder suchen, so hatte man sich getäuscht. Es entstand über Jahrzehnte ein Tourismus, der dafür sorgte, dass sich dagegen Widerstand bildete. Schließlich lagen die Toten verletzt und nur notdürftig bedeckt in diesem Raum, nur durch eine Glasscheibe von den Neugierigen getrennt.

In Paris war 1907 damit Schluss. Der damalige Polizeipräfekt Louis Lépine untersagte den öffentlichen Zutritt. Die Leichen nur noch auf Ladung besichtigt werden, beispielsweise durch Zeugen oder Angehörige. Nun mag man es kaum glauben, aber nach Verkündung und Durchsetzung der Verordnung regte sich Protest dagegen: Die Einzelhändler und Gastronomen in der Nähe des Leichenschauhauses hatten Umsatzeinbußen zu verzeichnen und brachten das mit den rigiden Besuchsregeln in Verbindung.

Die Begrifflichkeit »Leichenschauhaus« kam also erst später in Mode und wird heutzutage eher selten verwendet. Gibt es heute eine Ladung, dann hat man sich in einer Pathologie oder im Gerichtsmedizinischen Institut einzufinden. Das ist auch in Bremen so. Aber wie schaute es damals aus?

Gegen neun Uhr traf der Kommissar, ausgestattet mit sämtlichen Vollmachten, im öffentlich zugänglichen Leichenschauhaus ein. [...] Das Leichenschauhaus war modern, [...].

Sicher waren es die beiden Kriminalbeamten, mit denen Maigret im Hotel gesprochen hatten, die ihm die Vollmachten verschafft hatten. Wofür der Kommissar diese benötigte, erschließt sich aus dem Text nicht. Das Institut war öffentlich und er lungerte dort neben der Leiche seines Fremden herum, um herauszubekommen, ob sich jemand für den Leichnam interessierte. Die Frage, warum das jemand sollte, soll kurz beantwortet werden: In der Zeitung hatte eine kurze Notiz zum Tod im Hotel gestanden.

Eine Festlegung, wann die Geschichte in der Fantasie von Simenon gespielt hat, kann nicht getroffen werden. Dafür gibt es wenig Anhaltspunkte. Plausibel ist, dass sie nach dem Erfahrungshorizont Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre spielen wird. Das war die Zeit, in der Simenon die Region bereiste. Zu dem Zeitpunkt war das Leichenschauhaus in Paris für die Öffentlichkeit schon zwanzig Jahre geschlossen. Wie sah es zu der Zeit in Deutschland aus? Mitte der 1920er-Jahre notierte Egon Erwin Kisch, dass ihm diese öffentliche Zurschaustellung »wie der Raubtierpavillon des Zoologischen Gartens« vorkäme. Das lässt darauf schließen, dass er ihn nicht als Reporter besucht hatte, sondern Teil einer Gruppe war. Demnach sind die Schilderungen, die wir in der Geschichte von Simenon vorfinden, plausibel. (Leicht sind Quellen zu dieser Thematik nicht zu finden gewesen, offenbar wird hierzulande das Wort »Leichenschau« gern mit dem Begriff »Fußball« kombiniert.) In den 1950er-Jahren gab es noch Interessierte, die gern solch Leichenschauen beigewohnt hätten, zu dem Zeitpunkt waren Institute aber nicht mehr öffentlich.

Ausdrücklich erwähnt wird, dass es sich um ein modernes Gebäude handeln würde. Dieser Eindruck wäre nicht so fern, wenn man den zuvor angenommenen Zeithorizont für die Handlung annimmt. Die Bremer waren mit einer eigenen Pathologie sehr spät dran – in anderen deutschen Städten wurden entsprechende Institutionen viel früher errichtet und hatten demnach auch ein anderes Erscheinungsbild. Erst 1913 wurde das Gebäude fertiggestellt. Der Stil des Gebäudeäußeren war beeinflusst von der Reformarchitektur. Bei der Denkmalschutzbehörde ist man der Meinung, dass »alles mit großem Geschick in Szene gesetzt« wurde und erklärt, dass es baukünstlerisch der auffälligste Bau auf dem Krankenhausgelände wäre, auf dem das Gebäude errichtet wurde.

Wer die öffentliche Leichenschau besuchte, sah zwar die Verstorbenen; er wohnte damit aber nicht der Leichenschau – sprich der pathologischen Untersuchung/Obduktion – bei. Das wäre ja auch noch schöner gewesen …

Am Haupteingang im Westen befanden sich im Erdgeschoss ein Mikroskopierzimmer, ein kleiner Sektionssaal, ein polizeilicher Vernehmungsraum, einen Leichenschauraum mit gekühlten Aufbewahrungsboxen und angeschlossenem Kühlmaschinenraum, ein Richterzimmer sowie ein geräumiger Leichenkeller, im Obergeschoss das Laboratorium und Arbeitszimmer des Institutsdirektors samt Garderobenraum, ein Mikroskopiersaal und ein Klinischer Sektionssaal. Der Anatomie-Hörsaal im Süd-Querflügel gibt sich am Außenbau durch ein aus dem Hauptdach herausragendes zusätzliches befenstertes Halbgeschoss zu erkennen.

Wer in Bremen auf den Spuren von Maigret unterwegs ist, hat nur zwei Fix-Punkte: den Hauptbahnhof und die Pathologie. (Mit ein bisschen guten Willen vielleicht auch das Viertel um den Bahnhof herum.) Der Hauptbahnhof ist sicher zu finden, das Leichenschauhaus hat die Adresse Am Schwarzen Meer 134. 

Bis zum Jahr 2022 war dort die Pathologie beheimatet, nun steht es privaten Interessenten zum Kauf zur Verfügung. Abgerissen wird es als Baudenkmal nicht und größere bauliche Veränderungen sind auch nicht gestattet.