Agent in Lüttich

Welches Büro?


Eine Geheimdienst-Geschichte könnte sich als sehr interessant erweisen. Dieser Gedanke ist inspiriert von zahllosen James Bond-Filmen und anderen Spionage-Kino-Krams, der oft sehr unterhaltsam und actiongeladen daherkommt. Liest man sich die nüchterne Historie dieser Institutionen durch, überkommt einem ein Gähnen. Das scheint nur eine Behörde zu sein!

Im Laufe der Geschichte saßen die Mitarbeiter entweder vor einem Blatt Papier, vor einer Schreibmaschine und in der letzten Zeit vor einem Computer, um irgendwelche Berichte zu verfassen. Nur die wenigsten bekommen einen gewissen Charme, in dem sie verschlüsselt werden. Viele jedoch einen Stempel, der Geheimhaltung garantieren soll, was sie aber selten interessanter macht.

Als nun von dem Geheimdienst »Deuxième Bureau« die Rede war, sah das nach einem Selbstläufer aus. Wie üblich wird sich in die Geschichte eingelesen, eine interessante Figur herausgepickt und im Anschluss ein halbwegs bemerkenswerter Beitrag produziert. Aber was ist, wenn man es nur mit Bürokraten und Militärs zu tun hat? Keine gute, geschweige denn eine spannende Kombination!

Der Roman ist für ein Maigret-Frühwerk erstaunlich rund und kommt mit wenig Widersprüchen in der Story daher. Da gibt es ein wenig Konfusion, da uns Simenon mit Daten versorgt (gerade in Bezug auf die titelgebende Kirche), die letztlich nicht zur historischen Realität passen können. Eine Lappalie, schließlich lässt uns der Meister gern und oft im Unklaren über exakte Zeitangaben. Auch der Nachrichtendienst des Heeres war nicht schlechte aufgestellt und hatte Agentennetze in Deutschland, Italien und der Sowjetunion – und damit schon mal zwei künftige Kriegsgegner.

Mit der Kapitulation des französischen Staates im Zweiten Weltkrieg wurde es für das französische Deuxième Bureau richtig kompliziert: Aufspaltungen sowohl in organisatorischer wie auch in Hinsicht auf die Loyalität erfolgten. Das soll aber an der Stelle nicht weiter thematisiert werden, denn der Zeitraum des Geschehens in dem Roman liegt irgendwann zwischen 1917 und 1932 – und damit in einer Periode, in der der militärische Geheimdienst nicht so gut angeschrieben war.

Zwei Erwähnungen

Maigret sinnierte gegenüber Delvigne darüber nach, wer die Gegner (oder Partner) von Éphraïm Graphopoulos gewesen sein könnten. Möglich wäre auch ein Geheimdienst und deshalb meinte der Kommissar zu seinem Lütticher Partner Delvigne:

»[...] In den Geheimdiensten gibt es viele Griechen. Das Deuxième Bureau wird uns sagen können, was der Vater von Graphopoulos während des Krieges getan hat. [...]«

Im Endspiel kamen die Agenten erneut zur Sprache:

»Papiere, die uns nichts angehen, Delvigne. Die müssen wir alle dem Deuxième Bureau übergeben. [...]«

Nur welchem? 

Die einen

Der Begriff Deuxième Bureau (das zweite Büro) wird in verschiedenen Ländern für den Geheimdienst, meistens den des Militärs verwendet. Im Libanon, in Syrien und in Marokko nutzte man diese Begrifflichkeit genauso wie übrigens lange Zeit auch in Belgien.

In Frankreich hatte man sich um 1871 herum entschlossen, eine Abteilung zu gründen, die sich darum kümmern sollte, herauszubekommen, was aktuelle und potenzielle Gegner so vorhaben. Dabei hatten sie einen Blick sowohl auf die Landstreitkräfte, die Marine und die Luftstreitkräfte. Die Abteilung kümmerte sich in den Anfangsjahren auch um die Spionageabwehr und Gegenspionage – dies zusammen mit dem Service de Renseignement), aber ihr Wirken in der Dreyfus-Affäre wurde als nicht so erfolgreich bewertet, weshalb diese Aufgaben an den Abschirmdienst der Sûreté gingen. Damit war nicht mehr das Verteidigungsministerium dafür zuständig, sondern das für innere Angelegenheiten.

Der Geheimdienst machte wohl seine Arbeit. Größere Skandale sind für die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg nicht verzeichnet, allerdings fehlten auch nennenswerte Erfolge. Innerhalb des Militärs hatten die Schlapphüte einen miesen Ruf, weshalb sie bei der Planung von Militäraktionen nicht einbezogen wurden. Aus heutiger Perspektive ist das blöd gewesen, denn das Deuxième Bureau war auf dem Gebiet der Kryptogramme sehr erfolgreich und hatte Zugriff auf militärisch relevante Informationen, wie zum Beispiel die des immer bedrohlicher werdenden Deutschlands.

Hinzu kam, dass die Abteilungen, die sich um das Heer kümmerte, ein effizientes Agentennetz in Deutschland, Italien und Russland unterhielt. Die Herren waren sehr gut informiert, was in den Ländern vor sich ging.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges, genauer genommen mit der Kapitulation Frankreichs, kamen unruhige Zeiten auf die Agenten zu: Alles wurde neu aufgeteilt und die Loyalitäten änderten sich mit ihr. Die nun kommenden Zeiten waren jedoch für die Gai-Moulin-Geschichte wenig interessant. In dieser ging es um einen Zeitraum von fünfzehn Jahren, beginnend mit dem Jahr 1917.

Die anderen

Das ist die französische Sicht auf die Dinge. War es so, dass Maigret, wenn er vom Deuxième Bureau sprach, an den von Frankreich dachte oder den belgischen Geheimdienst im Sinn hatte? Der Kommissar war durch und durch Franzose, und üblicherweise sind die Bewohner der großen Nationen nicht gut informiert, was die Strukturen und Behörden der kleineren Nachbarn angeht. Maigret war eine Ausnahme, dass er den Namen des belgischen militärischen Geheimdienstes kannte (oder überhaupt von einer Existenz wusste).

Andererseits war Simenon Belgier und hatte durchaus Kenntnisse, wie es in seiner (damals schon) ehemaligen Heimat lief.

Das wird insbesondere mit der Bemerkung deutlich, in der Maigret zu Delvigne sagt, dass die gefundenen Unterlagen an das Deuxième Bureau übergeben werden müssen. An der Stelle erscheint es unwahrscheinlich, dass der französische Polizist seinem belgischen Kollegen vorschlägt, die Papiere an den Geheimdienst eines anderen Staates zu geben.

Der belgische Militär-Geheimdienst hat eine lange Vorgeschichte. Mit der Gründung der Armee, welche 1830 erfolgte, begann auch die Arbeit der Militär-Spione. 1910 wurde dann erstmals der Begriff »2me Bureau de Renseignement« verwendet. Der militärische Geheimdienst von heute – Service Général du Renseignement et de la Sécurité – sieht seine Ursprünge in der 1915 gegründeten Behörde, die den gleichen Namen trug, wie die fünf Jahre zuvor gegründete.

Nachdem Krieg war der Dienst für die Sicherheit der belgischen Truppen im Rheinland verwickelt. 1923 gab es in dem Landstrich einen Putsch, der auf Unabhängigkeit abzielte. Der Aufstand startete im Oktober dieses Jahres. Der Regierungssitz der neuen Republik sollte Koblenz sein. Der erste Ministerpräsident war Josef Friedrich Matthes, der in Würzburg geboren wurde und, nimmt man es genau, den größten Teil seines Lebens jenseits des Rheinlandes verbracht hatte – für Separatisten eine interessante Wahl (vielleicht waren die anderen in der Zeit beim Karneval?). Dieser Aufstand war nur möglich, da er von Frankreich und Belgien unterstützt wurde – und hier kommt das belgische Deuxième Bureau ins Spiel, welches in den Putsch verwickelt war.

Die Aktionen in Deutschland waren von politischer Seite nicht unerwünscht, schließlich wurde der Spuk mit der Rheinischen Republik erst beendet, nachdem andere Alliierte in Frankreich und Belgien intervenierte hatte. 1924 konnte sich der Regierungschef auf die Flucht begeben und fand sein Exil letztlich in Paris. Konsequenzen für den Geheimdienst gab es damals nicht.

Der Dienst plante Ende der 1920er-Jahre militärische Aktionen gegen die Niederlande und Deutschland. Im Hintersinn hatten die Leute mit dem Vorhaben, die Unabhängigkeitsbewegung der Flamen zu schwächen. Ziemlich unglücklich ist jedoch, wenn solche herauskommen und in der Presse veröffentlicht wurden. Wenn ein Geheimdienst zu wild wird, ist die Politik gezwungen, zu reagieren. Die Belgier machten den Laden vorerst dicht und übergaben 1929 die an die zivilen Spionage-Behörde. Erst als man acht Jahre später merkte, dass die deutschen Geheimdienstaktivitäten überhandnahmen, installierte man den Dienst erneut).

Die Auflösung des belgischen Deuxième Bureau ergibt jedoch wieder ein Datum, anhand der eine Eingrenzung des Handlungsspielraumes erfolgen kann – theoretisch. So wäre mit der Kirche das Jahr 1917 gesetzt und mit dem Geheimdienst 1929.