Église Saint-Pholien

Saint-Pholien


In dem Moment, in dem Bilder aus der eigenen Vorstellung mit der Realität zusammenkommen, ist oft Enttäuschung angesagt. Was hatte ich mir beim Lesen der Lütticher Romane Simenons unter der Kirche Saint-Pholien vorgestellt? Vermutlich ein unauffälliges, etwas spuckiges Bauwerk. Davor stehend werden viele Besucher wohl enttäuscht sein.

Für meinen Geschmack, ist das Gotteshaus sehr klobig und wirkt durch sein Grau überhaupt nicht einladend. Hinzu kommt, dass oft genug das Wetter in Lüttich nicht dem entspricht, was wir normalerweise schön nennen: Der Bau kann durch Regen und Nebel nicht gewinnen. Hätte sich der Baumeister doch bitte mehr Mühe gegeben, kommt es einem in den Sinn.

Interessant wird es, wenn sich die Simenon-Lesenden folgende Zeilen aus »Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien« ins Gedächtnis rufen:

»Ist das eine Lütticher Kirche?«
Jef antwortete nicht sogleich. Schließlich sagte er fast widerwillig:
»Die gibt es seit sieben Jahren nicht mehr. Sie haben sie abgerissen und eine neue gebaut. Die alte hatte keinerlei Stil, aber sie war sehr alt, und es lag etwas Geheimnisvolles in ihren Linien und auch in den Gassen rundherum, die heute alle weg sind.«
»Wie hieß die Kirche?«
»Saint-Pholien. Die neue heißt auch so.«

Das erste Gotteshaus an dieser Stelle wurde im 12. Jahrhundert errichtet, genauer kann es nicht gesagt werden – bekannt ist indes, dass die erste Pfarrei 1189 gegründet wurde. 

Die Kirche, die von Jef in »Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien« gezeichnet worden war und die der Kommissar in dessen Atelier betrachtete, war demnach nicht die Original-Kirche aus den Gründungszeiten.

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Saint-Pholien in einer Zeichnung von 1842

Credits: Public Domain

Das hat man sich denken können, wenn man die nebenstehende Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert betrachtet. Zwischen dieser Darstellung aus dem Jahr 1842 und einer Fotografie aus späteren Tagen gibt es ebenfalls Unterschiede. 

Dem Kirchturm auf der Abbildung fehlt die Haube. Entweder war sie über die Jahre verloren gegangen oder bei der Kirche aus den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts handelte es sich um eine andere »Fassung« der Église Saint-Pholien. Was einer gehörigen Ressourcen-Verschwendung gleichkommen würde.

Die dritte Saint-Pholien-Kirche hatte 1910 zu weichen und wurde abgerissen. Maigret hatte Ansichtskarten von der alten Kirche in einem Geschäft gesehen:

Im Schaufenster eines Schreibwarengeschäfts sah Maigret Ansichtskarten der alten Kirche, die weniger hoch, gedrungener und ganz schwarz gewesen war. Ein Flügel war mit Bohlen abgestützt. Auf drei Seiten waren niedrige, schäbige Häuser dicht an die Kirche herangebaut, die dem Ganzen etwas Mittelalterliches verliehen.

Die Stadtplaner hatten auf dem Reißbrett ein neues Quartier entwickelt. Das Viertel um die Kirche mussten weichen. Aus dem von Jef genannten Jahr und dem Wissen um den Abriss der Kirche, ließe sich ableiten, wann die Geschichte spielen müsste: 1917.

Handlungsfaden der Geschichte Simenons in Kombination mit historischen Fakten widersprechen der schlichten Rechnerei: In diesem Jahr war der Erste Weltkrieg noch im Gange. Die Frontlinie verlief quer durch Belgien und Maigret wäre es nicht möglich gewesen, so »lustig« durch Frankreich, Belgien und die Niederlande zu reisen, geschweige denn nach Bremen.

Église Saint-Pholien vor 1910 (Lizenz: Public Domain)

Zurück zur Kirche in ihrer heutigen Anmutung und der Entstehung: Edmund Jamar war ein belgischer Architekt, ein Lütticher Kind – geboren und gestorben in der Stadt. Er besuchte die Lütticher Akademie der Schönen Künste, bevor er sich für zwei Jahre in Gent weiterbilden ließ. So ist es nicht überraschend, dass sich noch Spuren von ihm finden.

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Église Saint-Pholien

Credits: maigret.de

Auf der gegenüberliegenden Seite der Maas ist die Grand Poste zu finden. Ein Gebäude, dass einen eher an ein kleines Schloss erinnern lässt – sein Stil wird der Neugotik zugerechnet. Das traditionelle Erscheinungsbild wurde mit modernen Techniken unterfüttert, so wurde für die tragenden Elemente auch Metall verwendet.

Während einem beim Anblick der ehemaligen Post in den Sinn der Gedanke kommen könnte, dass dies interessant und hübsch aussieht, dürfte einen dieser Geistesblitz beim Betrachten der »neuen« Kirche für die Pfarrei Saint-Pholien nicht ereilen. Auch dieser Bau wurde in neugotischem Stil errichtet. 

Dieser Eindruck dürfte durch das Grau, in dem die Kirche an ihrem Platze steht, verstärkt werden. Trüge die Église Saint-Pholien nicht diverse Plaketten, würden Touristen an ihr vorbeieilen.