Die Glänzende und das Postgeheimnis


Will man Geschichten lesen, wie sie heutzutage in Soaps gezeigt werden, dabei jedoch seinen arte-Nimbus nicht verlieren, so kann ich die alten griechischen Sagen empfehlen. Da wird alles geboten! Das Gute und das Böse, das Hässliche und das Schöne und alles immer im Superlativ. So kann eine Untergöttin auch nur »Die Glänzende« heißen und nicht anders.

Die »Glänzende« hatte zwei Schwestern, die auf die Namen Euphrosyne (übertragen »Frohsinn«) und Thalia (übertragen »Anmut«) hörten. Letztere wird gern als Name für Theater und Kinos verwendet. Meinen Vater kann man zur Weißglut treiben, indem man den Namen dieser Kulturstätten so ausspricht, dass der Hörende an einen »Taler« denken muss. Richtiger ist, die Betonung auf das Ende des Wortes zu legen. 

Die Schwestern sind unter dem Namen »Chariten« bekannt, was auf römisch soviel wie »Grazien« heißt. Die strahlenden Schönheiten hatten als Mutter Eurynome und als Vater Zeus (was sich vermutlich jeder geahnt hatte). Diese und die Nymphe Thetis hatten den bei Hera in Ungnade gefallenen Hephaistos im Meer versteckt. Sie soll auch die dritte Frau von Zeus gewesen sein, wobei sich mir nicht erschlossen hat, ob damit auch »Ehefrau« gemeint ist oder nur Geliebte. Schließlich war Eurynome mit Ophioneus, dem Schlangengott, verheiratet.

Aglaé

Die Ähnlichkeit mit Soaps ist bei den Geschichten frappierend – die Stories sind ebenso schwer zu durchschauen und entziehen sich allzuoft dem eigenen Erfahrungshorizont.

Die Namen der beiden Schwestern der »Glänzenden« hatte ich erwähnt, ihren Namen jedoch nicht: Aglaia, wird sie im Deutschen genannt – im Französischen Aglaé. In der freien Wildbahn hat sich mir noch keine Namensträgerin vorgestellt. In Varianten wird er verwendet, gern mit einem »j« statt einem »i«. Wer nun erfährt, dass Nastassja Kinski diesen Namen als zweiten Vornamen von ihren Eltern bekommen hat, überlegt wahrscheinlich nur kurz, nickt dann und denkt: »Typisch«.

Die französische Form des Vornamens ist ebenfalls kein Renner. Ist es heute nicht, war es noch nie. Wir verdanken diesen Ausflug in die griechische Mythologie der folgenden Passage, dem Beginn des siebten Kapitels:

Aglaé war kein Spitzname. Das Mädchen hat ihn sich nicht ausgesucht. Es war tatsächlich auf den Namen Aglaé getauft. Aglaé war sehr dick, besonders an Po und Hüften, und hatte das Unförmige einer Fünfzig- oder Sechzigjährigen, die im Alter aufgegangen ist wie ein Hefeteig. Ihr Gesicht dagegen wirkte eher kindlich [...]

Ich weiß nicht, wie es um Ihr Vorwissen bestellt ist – ich musste einen Mythologie-Abstecher unternehmen und mir die Zusammenhänge anlesen. Mit dem gewonnen Wissen offenbart sich die Ironie.

Die Dame von der Post

Aglaé hatte den Kommissar schon erwartet und teilte ihm das beim Eintreten, etwas vorlaut, mit. Mit ihrer Begründung traf sie den Nagel auf den Kopf:

»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie telefonieren müssen und das nicht gern von der Arche aus tun würden, wo die Leute jedes Wort mitbekommen.«

Aus dem wenigen, was sie zu Maigret sagte, schloss er, dass sie den von ihr vermittelten Gesprächen folgen würde. Damit war er vom Regen in die Traufe gekommen. Offenbar hatte der Kommissar keine Probleme damit. Er registrierte aber sehr wohl, dass sie ihre Kopfhörer abnahm, als er sein Gespräch beendet hatte. Die junge Frau hatte eine in ihren Augen plausible Erklärung für ihr Verhalten:

»Hören Sie immer die Gespräche mit?«
»Ich bin am Apparat geblieben für den Fall, dass die Verbindung getrennt würde. Ich traue nämlich der Beamtin in Hyères nicht. Sie ist ein altes Biest.«
»Machen Sie das bei allen so?«
»Morgens habe ich wegen der Post keine Zeit dazu. Nachmittags geht es schon eher.«

Nehmen wir die Antwort von Aglaé als ein »Ja, wenn die Möglichkeit besteht«. Ich zuckte bei dem Gedanken zusammen, dass es jemanden gibt, der über ein Gespräch, dass ich führe, Bescheid weiß, obwohl er nicht mein Gesprächspartner ist. Hätte der Kommissar ein wichtiges Thema gehabt, wäre er Manns genug gewesen, dieses vorab der Post-Beamtin verständlich zu mache.

Es gibt in dem Text ein Indiz, dass es um das Fernmeldegeheimnis generell nicht gut war. Mit heutigen Maßstäben darf an die Sache nicht herangegangen werden. Das mochte schlicht technische Gründe gehabt haben. Schließlich sagte Maigret mitten im Gespräch:

»Noch nicht trennen, Mademoiselle.«

Das würde bedeuten, dass sich hin und wieder die Fräuleins vom Amt in das Gespräch schalteten, um zu hören, ob die Leitung noch stand. Das wäre meine Interpretation. 

Simenon hat an der Stelle nicht ausgeführt, ob die Dame vor einer Bemerkung etwas gesagt hatte, ob es ein Geräusch oder Signal war, woran es Maigret erkannt hatte, dass sich die Dame dazu geschaltet hatte, oder ob er als Teilnehmer davon ausging, dass die Dame die ganze Zeit in der Leitung war und mithörte. Wenn es schon Aglaé konnte, warum dann nicht auch die Dame in Hyères.

Das Fräulein vom Amt

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Sylviac mit einem Telefon

Credits: Public Domain

Schauspieler:innen gab und gibt es in Paris wie Sand am Meer. Marie Thérèse Chauvin, deren Künstlername Sylviac war, hatte sich einen guten Ruf als Komödiantin erarbeitet und spielte nicht nur in Paris, sondern auch in Brüssel und im fernen St. Petersburg. Später verlegte sie sich auf das Schreiben von Theaterstücken, Kolumnen und anderer Literatur. 

Sie erlangte zu ihrer Zeit Berühmtheit durch ihren Kampf gegen die Telefongesellschaft. Der Grund war gewesen, dass sie sehr lange auf ein Gespräch warten musste. Fast eine Stunde. Sie beschwerte sich darüber. Im Gespräch mit der Vorgesetzten der Fräuleins erwähnte sie auch, dass die Damen sprächen wie Kühe. Diese Beleidigung wollte die Gesellschaft beziehungsweise deren Angestellte nicht auf sich sitzen lassen, weshalb sie zum einen die Schauspielerin anzeigten und zum anderen ihren Anschluss für mehr als zwei Wochen suspendierten. Den Strafprozess, vermutlich wegen Beleidigung, konnte sie gewinnen – das Gesagte war offenbar keine Beleidigung.

Sie wollte jedoch auch die Telefongebühren für die Zeit der Suspendierung zurückerstattet und geklärt haben, ob man das dürfe. In Frankreich gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine »Association des abonnés au téléphone«, eine Vereinigung der Telefonnutzern und ganz gewiss keine Volksbewegung. Diese unterstützen sie in dem Kampf, den sie aber letztlich trotz medialer Begleitung verlor. Die meisten Franzosen werden sich gedacht haben: »Das ist ein reines Luxusproblem!«, denn von zu Hause zu telefonieren, wahrscheinlich auch überhaupt zu telefonieren, war ein Luxus und den Reichen vorbehalten.

Das Telefon war Segen und Fluch für die »armen« Wohlhabenden. Denn der Zeitpunkt, zu dem sie mit ihrem Gesprächspartner über die Leitung sprechen konnten, wurde von jungen Frauen bestimmt, die ihnen – in Bezug auf den gesellschaftlichen Status – nicht ebenbürtig waren. Von solchen Damen sich sagen zu lassen, man müsse warten, war für manchen eine Herausforderung. Beschimpfungen von Seiten der Kunden waren an der Tagesordnung und vermutlich waren die Damen auf nicht auf den Mund gefallen. Der Service der Telefonvermittlung hatte jedenfalls nicht den besten Ruf. 

Lustigerweise waren die »Demoiselles du téléphone« gerade in der Anfangszeit echte Fräuleins. Voraussetzung für die Tätigkeit war, dass sie eine gute Schulbildung genossen hatten und idealerweise auch Fremdsprachen beherrschten. Ihr Ruf musste tadellos sein und sie durften nicht verheiratet sein. Üblicherweise wurde die Tätigkeit als Telefongesprächvermittlerin beendet, wenn die Frau heiratete.

Die Direktwahl, insbesondere bei Ferngesprächen, kam erst nach und nach – in Frankreich wurde das letzte Amt 1978 geschlossen.

Kooperativ

Damals hatten es die Ermittler leicht. Die Beamten gaben gern Auskunft und als Polizist war es nicht notwendig, irgendwelche Auskunftsersuchen oder vom Richter ausgestellte Anordnungen mit sich herumzuschleppen. Es genügte eine freundliche Nachfrage und schon wurde einem das Gewünschte ausgehändigt.

Aglaé war ein Musterexemplar an Kooperation für den Kommissar. Sie gab ihm die Kopie eines Telegramms und erstellte eine Liste, wer wann mit wem telefoniert hatte. Heute würden wir sagen, dass es ein datenschutzrechtlicher Albtraum war.