Über die Story

Der Kommissar traf in Saint-Aubin ein, aber nicht allein, womit nicht die alte Bäuerin gemeint ist, die mit ihm ausstieg, sondern ein alter Bekannter Maigrets: Inspektor Justin Cavre. Schon die Anwesenheit des ehemaligen Inspektors der Pariser Kriminalpolizei und jetzigen Privatdetektivs im Zug hatte Maigret irritiert. Konnte das Zufall sein, dass der Ex-Inspektor mit ihm in einem solchen Bummel-Zug unterwegs war, und hartnäckig bemüht war, den Kommissar und seinen ehemaligen Chef zu ignorieren? Cadavre, wie sein Spitzname war, stieg auch in Saint-Aubin aus, wo Maigret von seinem »Klienten« erwartet wurde.

Es war Naud, kein Zweifel. Sein Schwager, der Richter, hatte ihm die Ankunft des Kommissars angekündigt. Aber welcher der beiden Männer, die aus der Bahn stiegen, war Maigret?
Er ging zunächst auf den schlankeren zu. Schon hob er die Hand an den Hut; sein Mund öffnete sich, um eine zögernde Frage zu stellen. Aber Cavre schritt verächtlich an ihm vorbei, dabei machte er ein Gesicht, als wüsste er Bescheid und als wollte er mit seiner Haltung zum Ausdruck bringen: »Ich bin es nicht. Es ist der andere.«
Der Schwager des Richters besann sich.
»Kommissar Maigret, nehme ich an… Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe…«

Maigret war nicht in offizieller Mission unterwegs, sondern hat sich von einem der Untersuchungsrichter in Paris breitschlagen lassen. Es war nicht viel zu tun in diesem Januar in Paris, und der Schwager von Naud, Richter Bréjon, war der Meinung, dass sich in Saint-Aubin Schwierigkeiten anbahnten, die nur der bekannte Kommissar lösen könnte. Nur er konnte den Ruf der Familie retten.

Ungeheuerliches tat sich in der kleinen Stadt. Vor Kurzem war auf den Schienen der Bahnlinie, die an dem Ort vorbeiführte, Albert Retailleau von einem Zug überfahren worden. Die Stelle, an der er umkam, lag schon sehr dicht an dem Gehöft der Nauds, seine Mütze fand man aber an einem Kanal, und diese Stelle war nur fünfhundert Meter von den Nauds entfernt. Im Dorf machten Gerüchte die Runde, in denen die Nauds verdächtigt worden. Die Situation wird für die Familie noch unangenehmer, als anonyme Briefe bei der Staatsanwaltschaft des Distriktes eingehen, in der die Nauds beschuldigt werden, das Verbrechen verübt zu haben.

In der ersten Nacht an Maigret gleich ein AHA-Erlebnis – die Tochter des Hauses kommt in sein Zimmer und lässt folgendes verlautbaren:

»Ich muss Ihnen nur kurz was sagen… Ich erwarte ein Kind von Albert Retailleau… Wenn mein Vater es erfährt, dann bringe ich mich um, davon wird mich niemand abhalten können…«

Der Kommissar, selber im Nachhemd, wie das Mädchen auch, ist ziemlich erstaunt und kann darauf nichts entgegnen.

Das Dorf, das darf der Kommissar am nächsten Morgen feststellen, ist in zwei Lager geteilt: in die da Oben und die Anderen. Merkwürdiges tut sich, erfährt der Pariser, die Mutter des Verstorbenen hat keinerlei Interesse, dem Fall nachgehen zu lassen. Der Postbote berichtet den Aufgebrachten, dass er beobachten konnte, dass sie mit Tausend-Franc-Scheinen vor seinen Augen herumhantierte, entschieden zu viel für die Witwe eines Molkereiangestellten, aber nicht unbedingt zuviel für jemanden, der gerade eine Schweigegeld kassiert hat. Der alte Désiré, der eigentlich immer betrunken war, und die Mütze von Albert gefunden hatte, konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, wo das gewesen ist, schickt aber seinem Sohn viel Geld nach Marokko. Louis, der beste Freund von Albert, eine große Stütze bei den Ermittlungen Maigrets, der die Mütze aufbewahrte, muss feststellen, dass diese aus seinem Zimmer verschwunden ist und seine Mutter sehr einsilbig auf seine Fragen antwortet. Der Postbote, der gesehen hat, wie die Mutter von Albert mit verdächtig viel Geld herumhantierte, mag sich plötzlich nicht mehr erinnern, dass er das gesehen hat. Maigret ist nirgendwo willkommen, nicht einmal im Haus der Nauds. Was noch schlimmer ist und ihn in seiner Ehre und seinem Ehrgeiz verletzt, ist, dass überall vor ihm Cavre aufgetaucht ist.

Überrascht ist Maigret, dass Cavre nicht der Ermittler einer Gegenpartei ist, sondern fleißig dabei ist, Beweise zu vernichten und Zeugen zu manipulieren. Da stellt sich schon die Frage, was Maigret in Saint-Aubin eigentlich soll, denn die Einzigen, die ein Interesse an Beweismittelvernichtung haben könnten, sind die Nauds. Aber warum haben sie ihn dann kommen lassen.

Die Stimmung steigt, als der beste Freund der Familie, Alban Groult-Cotelles, eines Abends aufgeregt angeradelt kommt und verkündet:

»Stellen Sie sich vor, Kommissar, heute morgen, nachdem Sie gegangen waren, da fiel mir zufällig das in die Hände…«

Maigret beschaut sich das Stückchen Papier, dass ihm gereicht wird, die Nauds werden sehr neugierig.

Der Zettel, den Maigret zwischen seinen klobigen Fingern hin und her wendete, war eine Rechnung vom »Hôtel d l’Europe« in La Roche-sur-Yon. Zimmer dreißig Francs. Frühstück: sechs Francs. Service ...
Das Datum: 7. Januar.

Was für ein Zufall, das war der Abend, an dem der junge Albert umgekommen war.

»Sie warten erst gar nicht, bis man Sie beschuldigt, Sie versuchen Ihre Haut wohl schon vorher zu retten?« bemerkte Naud schließlich, der Zeit gehabt hatte, seine Worte abzuwägen.

Das sieht Maigret ähnlich… Die ganze Stimmung und vor allem die Anwesenheit und die Machenschaften von Cadavre spornen ihn ungeheuer an, auch wenn es in eine ganze andere Richtung geht, die sich der Untersuchungsrichter in Paris vorgestellt hat.