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Frühlingsgefühle
Frühlingsgefühle mit Maigret? Da muss einem doch etwas abgehen, wird sich so mancher denken. Und in der Tat kann man bei einem Genre, in dem es um Mord und Totschlag geht, schlecht dieses Schlagwort »Frühlingsgefühle« zuordnen. Geht es einem Krimi heute um den Frühling, so wird hat dies im besten Fall noch Einfluss auf die Leiche. Aber sonst? So gut wie nichts. Bei Simenons Maigret ist es etwas anders, auch wenn man es kaum glauben mag.
In vielen Maigret-Geschichten ist der Anfang magisch. Mit wenigen Worten skizziert der Schriftsteller eine Umgebung, so dass man sich hineinversetzen kann. Hat der Kommissar seine Schultern hochgezogen und den Hut tief ins Gesicht gezogen, so weiß man: kalte Jahreszeit. Der Kommissar kann sich auch über sogenanntes schlechtes oder, sagen wir es mal so, nicht ganz so schönes Wetter freuen - wenn es zum passenden Zeitpunkt kommt. So freute er sich in einem Roman wie ein Kind über den ersten Nebel.
Frühling bleibt trotzdem etwas ganz besonderes. Auch für den Kommissar:
Zum ersten Mal in diesem Jahr ging er ohne Mantel, zum ersten Mal befand er sich schon um zehn Uhr morgens auf dem Lande. Sogar seine dicke Pfeife schmeckte nach Frühling. Es war noch kühl. Maigret ging mit schweren Schritten, die Hände in den Hosentaschen.
Mir fallen dabei zwei Dinge auf: Lässigkeit und Einbildung. Ein Mann, der mit den Händen in den Taschen läuft, rechnet zum einen damit, nicht mehr auszurutschen - sprich der Winter ist vorbei. In meiner Vorstellung, die sich nicht mit den Maigrets der Filmgeschichte deckt, haben die Hände in den Taschen noch einen anderen Effekte. Ich stelle mir vor, dass Simenon etwas jünger ist, noch nicht ganz so gewaltig. Trotzdem groß. Und so schlendert er hinter Félicie hinterher, freut sich am Wetter und mag nicht so recht an das Verbrechen denken. Es geht leicht und er wirkt dabei lässig.
Als Nichtraucher ist es mir ein völliges Rätsel, wie es gehen kann, aber wenn man eine Pfeife mit beliebigen Tabak an diesem Tag nach Frühling schmeckt, ist man wahrscheinlich sehr, sehr gut drauf. Frische Frühlingsluft mag sich mit dem Tabakgeschmack verbinden und dieses einzigartige Aroma erzeugen, aber ich halte es mehr für Einbildung.
In diesen Frühlingstagen, vermutlich im März, verschlug es Maigret in eine Kleingarten-Siedlung, in der sich Julie Lapie sein Häuschen gebaut hatte. Nun ist er tot und Félicie hatte beschlossen, wie ein Grab zu schweigen und dem das Leben so schwer wie möglich zu machen. Und so manches Frühlingsgefühl zu rauben.
Nicht immer schlägt der Frühling ganz so zu, wie er es in der Dienstmädchen-Geschichte tat, in »Maigret und der Verrückte aus Bergerac« beispielsweise, kann Maigret bei der Ankunft in der Gegend zur den Frühling nicht riechen, nicht fühlen - er hat das Gefühl, dass der Frühling noch etwas zu kämpfen hat.
Zufall auf der ganzen Linie. Tags zuvor wusste Maigret noch nicht, dass er eine Reise unternehmen würde. Dabei war es die Jahreszeit, da Paris ihn zu bedrücken begann: Die grelle, warme Märzsonne ließ bereits den Frühling ahnen.
Frühling in der Stadt ist auch nichts. Ein Ausflug in die Dordogne kommt da gerade recht, zumal ihm ein alter Kollege diesen Ausflug mit der Lachssaison anpreist. Maigret konnte ja nicht ahnen, dass er aus einem Zug springen würde (ein actionartiges Ereignis für maigretsche Verhältnisse) und kurz darauf durch einen Schlag niedergestreckt würde. Mit den Frühlingsgefühlen war es dann erst mal nichts mehr. Nicht nur, dass man ihn für einen Mörder hält: Zu allem Überfluss liegt er auch noch in einem Krankenbett. Statt schlemmen im Frühling, tristes Hotelzimmer mit Schonkost. Wer sich für diesen Roman als Frühlingslektüre entscheidet, bekommt weniger vom Frühling mit, wird aber aller bestens unterhalten.
Der Klassiker unter den Maigrets - zumindest aus schulischer Sicht - »Maigret und der Clochard« kommt in meinen Augen mit einer der schönsten Erzählungen eines Frühlings daher:
Für einen Augenblick, so kurz, dass der neben ihm gehende Lapointe gar nicht darauf achtete, hielt Maigret inne auf dem Weg zum Quai des Orfèvres zum Pont Marie. Für Sekunden, vielleicht auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, hatte sich der Kommissar ins alter seines Begleiters zurückversetzt gefühlt.
Es musste an der Beschaffenheit der Luft liegen, an ihrer strahlenden Helle, ihrem Geruch, ihrem Geschmack. So musste es an so manchem Morgen gewesen sein damals, als er in jungen Jahren, als frischgebackener Inspektor der Kriminalpolizei, die bei den Pariser noch La Sûreté hieß, für öffentliche Ordnung zu sorgen hatte und deshalb von früh bis spät in den Straßen von Paris unterwegs war.
Obwohl man schon den 25. März schrieb, war es der erste wirkliche Frühlingstag, und es war um so heller und klarer, als in der Nacht zuvor ein leichter, von fernem Donnergrollen begleiteter Regen gefallen war. Zum ersten Mal in diesem Jahr hatte Maigret auch den Überzieher im Schrank seines Büros gelassen, und von Zeit zu Zeit blähte ein Luftzug sein aufgeknöpftes Jackett auf.
Mit wenigen Zeilen schafft Simenon eine Stimmung um Maigret, die die das Gemüt des Lesers aufhellt und man freut sich mit dem Kommissar über diese wundervolle Atmosphäre, auch wenn ihr auch ein Hauch von Melancholie innewohnt, wie das so häufig ist, wenn man sich an etwas in der Vergangenheit erinnert, das unwiderruflich vorbei ist. Nie wieder wird Maigret, so durch die Straßen gehen, wie damals als er ein kleiner Flic war und alten Damen über die Straße zu helfen hatte. In dieser Verklärung liegt natürlich auch das Schönreden von Vergangenem, denn damals hatte er sich die Füße wund gelaufen und hatte gewiss nicht nur mit älteren netten Damen zu tun, sondern auch mit wildgewordenen Lausbuben, Betrunkenen mit den unterschiedlichsten Füllgraden und vielen Kleinkriminellen. So wie der Zauber aus der Vergangenheit aufgetaucht ist, so schnell verschwindet er auch wieder, löst sich in die Luft auf, die er gerade noch genossen hat, und wird mit einem seiner kompliziertesten Fälle konfrontiert, die er zu bewältigen hat - und die Heerscharen von Schülern jeglichen Frühlingsfühl abspenstig machen.
Der Frühling, wie er in dem »Treidler« beschrieben wird, wirkt nicht mehr ganz so freundlich. Es war nicht einfach nur Regen, es war Regen, der die Menschen daran zweifeln lässt, ob sie es mit der richtigen Jahreszeit zu tun haben:
Am Sonntag - es war der 4. April - hatte es um drei Uhr nachmittags angefangen, in Strömen zu gießen.
Wenn man so einen Satz liest, denkt man unwillkürlich: und es hörte nicht mehr auf und regnete immer, immer weiter. Ein Ende ist nicht abzusehen, denn man hat es nicht mit einer Husche zu tun. Wird später nicht etwas anderes gesagt, was Simenon normalerweise nicht tut, so setzt sich dieses Wetter fort. Es ist wie mit den Getränken bei Simenon: Trinkt er am Anfang Bier, so pflegt er immer weiter Bier zu trinken. Regnet es am Anfang eines Romans, so hat man das Gefühl, das Wetter bleibt so über den ganzen Roman. Nur in ganz seltenen Fällen, so mein Empfinden, spielt das Wetter eine entscheidende Rolle am Ende der Geschichte. Der Treidler ist also eine schlechte Lektüre, wenn man sich in Frühlingsstimmung bringen möchte.
Der Regen ist dagegen noch spektakulär. An Frühlingsgefühle ist in »Maigrets erste Untersuchung« überhaupt gar nicht zu denken. Der Frühling kommt in der Erzählung gar nicht vor. Es dreht sich allein um den Beginn der Karriere des Polizisten. Aber das sagt doch auch etwas aus: Die Karriere Maigrets startete im Frühling.