Nachtszene Gai-Moulin

Würfel statt Karten


Hat ein Wirt die Zeit, mit einem Gast zu spielen, ist höchstwahrscheinlich in seiner Kneipe oder in seiner Bar nicht viel los. Spielt er dabei um Geld, so wird der Ausschank-Beauftragte keine Ablenkungen erwarten, schließlich will man, sieht man sich auf der Siegerstraße, nicht ein Wein einschenken oder Bier zapfen. Es war so ein Abend und Génaro spielte an der Theke.

Sein Gegenüber wurde als geschniegelt beschrieben. Ob ihn das sympathisch macht, muss eine jede und ein jeder mit sich ausmachen. Simenon ist aber geschickt. Kaum ist das »geschniegelt« aus dem Fokus des lesenden Auges verschwunden, gibt es den nächsten Begriff, mit dem die Lesenden wohl zu kämpfen haben. Zumindest heute, und zumindest die, die in Glücksspielen nicht so bewandert sind.

An der Bar ein geschniegelter Gast, der Würfelpoker mit dem Wirt spielte.

Erstaunen, so lässt sich die Reaktion beschreiben, die mich beim Lesen überkam. Würfel: ja. Poker: ja. Aber beides zusammen, ich konnte mir das nicht vorstellen und dachte: Wer hat sich denn so etwas ausgedacht? Ist das für Kinder gedacht? Aber nein, ich durfte mich eines besseren belehren lassen. Das frisch erworbene Wissen gebe ich natürlich gern weiter, auf dass beim nächsten Lesen des Romans die geneigten Maigret-Leser:innen nicht ebenso stolpern wie meine Wenigkeit.

Die einfachste Erklärung ist: Würfelpoker ist Pokern mit Würfeln. Nun ist Poker ja auch nicht gleich Poker. Schaut man sich die Western von früher an, in denen dem Spiel genauso gefrönt wurde wie in die Offiziere und niedrigen Dienstgrade es in in der Serie M*A*S*H, werden da wie wild getauscht, was in dem heutigen sehr gängigen Texas Hold'em wesensfremd ist. Das, was einem zugeteilt wird, ist zu nehmen und es bleibt nur die Entscheidung, ob die Karten für den Gewinn ausreichen oder nicht.

So ist es auch beim Würfelpoker. Aber vorneweg: Über den Satz hinaus lässt sich Simenon über das Spiel nicht weiter aus. Welche Variante gespielt wird, darüber kann nur spekuliert werden. Womit wir schon wieder beim Thema sind … aber Maigret und seine Kollegen übernehmen mal.

Maigret erklärt es

Der Regen prasselte gegen das Fenster von Maigrets Büro am Quai des Orfèvres, als ein alter Kollege, Wachtmeister Lucas, hereinstürmte. In der Hand hielt er eine Schachtel mit Würfeln. »Chef, ich habe gerade ein faszinierendes Spiel entdeckt. Im Bistro ›Clara‹ in der Rue Maurice-Blanc spielten sie es und ich habe es konfisziert. Es nennt sich Würfelpoker und ich brauche ihre Hilfe, Chef, um die Regeln zu verstehen. Hier sind die Würfel.«

Maigret nahm die Schachtel und musterte sie skeptisch. »Lucas, manchmal fragst du mich nach den merkwürdigsten Dingen. Aber gut, lass uns einen Blick darauf werfen.«

Der Kommissar öffnete die Schachtel und fand fünf Würfel darin. »Hab's mal in Lüttich gesehen. Muss eine Ewigkeit her sein.«

Der Kommissar kratzte sich am Kopf: » Also Lucas, wie der Name schon sagt, handelt es sich bei Würfelpoker um eine Kombination aus Poker und Würfelspiel. Das Ziel ist es, das beste Ergebnis zu würfeln. Jeder Spieler hat drei Würfe, um seine Hand zu bilden. Nun, lass uns die Regeln genauer betrachten.«

Er nahm die Würfel in die Hand und begann zu erklären: »Es gibt insgesamt sechs Seiten eines Würfels, auf denen die Bilder vom As abwärts bis zur neun stehen. Die Würfe werden nacheinander durchgeführt, wobei der Spieler nach jedem Wurf entscheiden kann, welche Würfel er behalten und welche er erneut werfen möchte. Nach dem dritten Wurf muss der Spieler seine endgültige Hand zusammenstellen.«

Lucas nickte aufmerksam. »Verstehe, Chef. Aber wie bildet man die … Pokerhand?«

Maigret setzte seine Pfeife an und sagte: »Das Würfelergebnis besteht aus den üblichen Kombinationen wie im normalen Pokerspiel. Die höchste Hand ist der Royal Flush, also fünf aufeinanderfolgende Zahlen von derselben Farbe, gefolgt vom Straight Flush, bei dem die Zahlen beliebige Farben haben können. Dann gibt es das Four of a Kind, Full House, Flush, Straight, Three of a Kind, Two Pairs und schließlich das einfache Pair. Die niedrigste Hand ist die High Card."

Der Wachtmeister schien es zu verstehen. »Aber wie gewinnt man das Spiel?«

Maigret lächelte leicht. »Gewinnen tut der Spieler mit dem besten Ergebnis, genau wie beim regulären Poker. Nachdem beide Spieler ihre Würfe absolviert haben, werden die Ergebnisse verglichen, und der Spieler mit dem besten Resultat gewinnt den Pot.«

Der kleine Lucas kratzte sich am Kopf. »Das klingt kompliziert, Chef. Aber ich glaube, ich fange langsam an, es zu verstehen.«

Der legte die Würfel zur Seite und stand auf. »Leclerc, das Würfelpoker ist ein Spiel des Zufalls und der Strategie. Man muss die Wahrscheinlichkeiten und die möglichen Kombinationen im Auge behalten. Jetzt aber genug des Spiels. Wir haben noch einen Mordfall zu lösen, der unsere ganze Aufmerksamkeit haben sollte. Du mit deinem Spiel!«

Der vom Glücksspiel-Dezernat hat Anmerkungen

Image Lightbox

Lapointe saß mit Santoni in der »Brasserie Daupine«. Sie tranken ein Bier, als Lucas und der Chef reinkamen. Maigret hob die Hände und symbolisierte in Richtung des Kellners eine zwei mit seinen Fingern.

Der grübelte nun, ob der große Kommissar, zwei pro Person meinte oder zwei Gläser insgesamt. Klar war nur, dass keine kleinen Gläser gemeint waren.

Maigret setzte sich und meinte zu Santoni: »Du bist der richtige Mann. Du kannst uns sicher noch ein wenig mehr zu Würfelpoker erzählen. Da wird doch um Geld gespielt, richtig!«

»Aber ja«, antwortete der Inspektor, »nicht um die großen Beträge, aber es lässt sich auch dort was verlieren.«

»Wie geht das?« fragte Lucas interessiert, »man sieht doch immer, was der andere gerade gelegt hat. Ist doch Unsinn, noch größere Summe zu wetten.«

»Oft wird es als Poker menteur gespielt. Du gehst her, und hast eine kleine Barriere zwischen den Spielflächen. Also siehst du nicht, was der andere gewürfelt hat. Der würfelt und sagt an, was er gewürfelt hat. Okay?«

»Oui. Der kann mir doch den größten Blödsinn erzählen …«, meinte Lucas.

Maigret brummte. »Intuition!«

»Genau«, meinte Santoni, »du musst ihm sagen, ob du ihm glaubst oder nicht. Glaubst du ihm nicht, musst die ihm das sagen, und dann muss er zeigen, was er hat. Hat er die Wahrheit gesagt, bist du der Dumme und das Geld ist weg.«

»Hört sich gut an!« meinte Lapointe.

»Nix da!« mischte sich Maigret ein. »Für dich Jungspund ist das nichts!«

Der junge Inspektor schaute konsterniert. Andererseits war er es gewohnt, dass sich Maigret wie ein Vater verhielt.

Santoni fuhr fort: »Aber wenn du recht hattest, bist du der große Gewinner. Beim Poker kann man noch Karten zählen, aber beim Würfeln? Was will man da zählen? Halten sich beide für glaubwürdig, wird bis zum Ende gespielt und dann geschaut, wer die besseren Würfel hat.«

Die zwei Bier für den Kommissar kamen und bevor er einen großen Schluck nahm, meinte er nur: »Kinder! Wollt ihr mehr wissen, schaut heute Abend zu Hause im Larousse nach. Jetzt brauche ich mein Bier …«