Unterschrift

Seite 410


Nun besteht jedes Kapitel in diesem Buch aus Plaudereien von Simenon. Mir sind die am liebsten, in denen der Belgier mir Fakten vor die Füße wirft. Was war das für ein Auto? Wer soll Fahrradhändler gewesen sein? Was war das für ein Hotel, in dem der Schriftsteller nächtigte. Mit mir macht es das gleiche wie eine mit Baldrian eingesprühte Spielzeugmaus mit Katzen.

Am 23. Juni 1950 startete am New Yorker Flughafen LaGuardia eine DC-4 der Northwest Orient Airlines. Der Flug 2501 sollte über Minneapolis und Spokane nach Seattle führen. Zwei Zwischenstopps waren damals bei solch einem Tripp üblich gewesen. Allerdings sollte der erste Halt nicht erreicht werden, denn über dem Lake Michigan unweit von Chicago stürzte die Maschine ab. Die Wetterverhältnisse waren nicht die besten gewesen und der Pilot hatte den Wunsch geäußert, auf eine niedrigere Flughöhe wechseln zu dürfen. Das Ansinnen wurde ihm abgeschlagen, da es zu viel Verkehr auf der geringeren Höhe herrschte. 

Nach dem Absturz wurde sofort eine groß angelegte Suche gestartet. Gefunden Trümmer, Teile von Sitzen und menschliche Körperteile. Das Wrack blieb jedoch auffindbar. Bei dem Unglück starben 58 Menschen und es gab keinen Überlebenden.

Am späteren Nachmittag dieses Juni-Nachmittags startete auch Simenon mit seiner Familie in Reno, um nach New York zu fliegen. Das Flugzeug kam aus Los Angeles. Der Autor berichtet in seinen Memoiren, dass er schon öfter in Europa geflogen war. Meist zwischen europäischen Hauptstädten. Auch in Afrika hätte er eine Flugreise unternommen – von Nord nach Süd wäre er drei Tage unterwegs gewesen. Das Flugzeug wäre damals sehr niedrig geflogen und es hätte Luken gegeneben, um die Kabine mit Frischluft zu versorgen. Kein Vergleich mit dem Flieger, in das Simenon nun stieg.

Gegen Mitternacht rüttelte ihn Denyse wach und wies ihn darauf hin, dass es ziemlich ruppig zugehen würde. Das Bordpersonal hatte begonnen, Schwimmwesten und Gummiboote in der Nähe der Ausgänge zu platzieren. Eine Stewardess hatte Denyse erzählt, dass sie sich dem Lake Michigan näherten. Wie wenig der Flug in der Hinsicht ein Vergnügen war, lässt sich daraus ableiten, dass Simenon beobachtete, dass sich die meisten Passagiere übergeben mussten. Es hätte nur einen Mann gegeben, der weiter in Ruhe schnarchte und sich nicht stören ließ. (Genau genommen waren es zwei, bis Denyse ihren Gatten weckte.)

Sie landeten in Chicago zu einem planmäßigen Zwischenaufenthalt. Sie mussten aussteigen und wurden dabei pitschnass. In der Lounge war ein Büffet aufgebaut, an dem sie sich bedienen konnte. Das sollte den geplant kurzen Aufenthalt verkürzen. Diese Nacht jedoch verlief anders, wie sich gut vorstellen lässt:

Hier auf der Erde war es allerdings nur ein heftiger Sturm, und als wir im Büfett in Sicherheit waren, fragte ich D.:
»Was ist los?«
»In eben dem Augenblick, als wir über dem See zur Landung ansetzten, stürzte ein Flugzeug derselben Linie, das in entgegengesetzter Richtung nach Los Angeles flog, mit seinen etwas über fünfzig Passagieren in den See.«
Ambulanzwagen und Feuerwehrautos entfernten sich in einem düsteren Zug, während man das Heulen der Schiffssirenen auf dem Michigansee hörte.

Die Passagiere mussten länger warten, bis sie wieder an Bord gebeten wurden. Simenon erwähnt noch, dass ihnen berichtet wurde, dass die Marine den See nach Überlebenden absuchen würde. Schwierig war das aufgrund der Wetterverhältnisse, denn auf dem Lake Michigan gab es bis zu drei Meter hohe Wellen.

Ich würde jeden verstehen, der in einer solchen Situation den Wunsch äußert, den Flug aufzuschieben. Schließlich hatte sich das Wetter noch nicht beruhigt und Simenon schreibt, dass der Sturm dem Flugzeug zu folgen schien. Der Kapitän des Flugzeugs entschied sich, einen größeren Umweg zu fliegen.

Von Kutschen und Hotels

In der deutschen Übersetzung wird einem gleich im nächsten Abschnitt die Gelegenheit gegeben, zu stutzen. Bei ihrer Abfahrt aus Carmel hatten die Simenon den Kinderwagen von Johnny zurückgelassen. In New York hatten die beiden keine Lust, den Kleinen ständig durch die Gegend zu tragen. Der Vater machte sich auf den Weg und wollte ein neues Transportmittel für den Sohn besorgen. In einem Spezialgeschäft auf der Fifth Avenue wurde er enttäuscht: 

»Schade, noch in der letzten Woche hatten wir welche, schöne, weißlackierte Landauer auf einem Gestell aus verchromten Stahl.«

Den Begriff hatte ich für Kinderwagen noch nie gehört, aber ich bin da auch kein Spezialist. Meine Assoziationen mit dem Wort wären – haargenau in der Reihenfolge – Wurst, Pferd, Hut. Mit der zweiten Verknüpfung komme ich der Sache, die gemeint ist, noch am nähesten. Im Deutschen verbindet man mit dem Wort eine Droschke, die vier Räder und vier Sitze hat und zudem gefedert ist. Ein weiteres Merkmal ist, dass sie solche Kutschen ein Verdeck haben, welches sich wie bei einem Cabrio öffnen und schließen lässt. Wer im 18. und 19. Jahrhundert etwas auf sich hielt, der fuhr mit einem Landauer. Später legte sich diese Mode.

Im Deutschen würde keiner auf die Idee kommen, einen Kinderwagen einen Landauer zu nennen. Das machen nur die Franzosen, was meiner Meinung nach, nicht zum Allgemeinwissen gehört.

Nicht nur Johnny wollte durch die Straßen kutschiert werden. Das alte Auto – wir erinnern uns – hatte Simenon in Carmel verkauft. So musste sich der Schriftsteller nach einem neuen Gefährt umschauen, schließlich hatte er noch keinen Plan, wo es sie hinziehen würde. Nicht nur Denyse, auch Tigy und Boule warteten auf eine Entscheidung von ihm.

Da ich gerade dabei war, ging ich auf den Broadway in die Garage Chrysler. Ich erinnerte mich an meinen guten Chrysler von einst, der mir acht Jahre lang treu gewesen war, bevor ihn einer meiner Freunde in La Rochelle, ein Bauer, dem ich ihn geschenkt hatte, zu einem kleinen Lieferwagen umgebaut hatte.
Nun, ich kaufte keinen Chrysler im eigentlichen Sinne, sondern einen De Soto, ein neues Modell mit Namen »Town and Country« vom selben Hersteller.
Diese Autos »für Stadt und Land«, bei denen man die Rückenlehnen herunterklappen konnte, was heutzutage üblich ist, waren damals eine Neuigkeit.
»Kann ich ihn mitnehmen?«
Ich zog mein Scheckbuch aus der Tasche.

Die Amerikaner sind genauso wie die Deutschen autoversessen. Sie stellen Autos gern aus, beschreiben sie im Internet. DeSotos-Marketing-Leute haben ganze Arbeit geleistet, als sie sich die Namen für ihre Wagen ausdachten: Firedome, Fireflite, Firesweep, Adventurer, Airflow, Airstream. Als langweiligster Name taucht Custom in der Liste auf und ein Club Coupe. Aber ein »Town & Country« ist nicht zu finden.

Image Lightbox

DeSoto Town & Country

Credits: Stephen Foskett

Aber schrieb Simenon nicht, dass er sich in einem Chrysler-Autohaus befand? DeSoto gehörte das Fabrikat zu dem Chrysler-Konzern, aber Anfang der 60er-Jahre fingen die Modellpaletten des Mutterhauses an, sich mit denen von DeSoto zu überschneiden. In dem Zuge wurde die Marke beerdigt. Ein Blick auf die Fahrzeuge von Chrysler schien sich zu lohnen und siehe da, seit 1941 stellte die Firma Autos unter diesem Label her. Mit einer kleinen Unterbrechung im 2. Weltkrieg wurden die Wagen bis 1988 produziert. Die umklappbaren Rücklehnen deuteten schon auf einen Trend hin, der sich in dieser Reihe verstärken sollte – es ging um das Praktische. So wundert es nicht, dass in späteren Jahren diese Autos, die an Schlachtschiffe gemahnen, sich zu Kombi-Fahrzeugen entwickelten.

Er hatte vorgehabt, den Wagen in Bar zu bezahlen. Der Verkäufer riet ihm davon ab, das wäre nicht üblich. Wer etwas auf sich hielte, der würde sein Fahrzeug auf Kredit finanzieren. Schon aus steuerlichen Gründen. Der Witz an der Geschichte: Einen Kredit muss man sich leisten können. Wer nun in Sorge war, das Tigy ihren Ex bei der Scheidung komplett »ausgeraubt« hätte – dem war wohl nicht so. Andernfalls hätte sich das Paar weder den Flug noch die Unterkunft in New York leisten können, geschweige den Barkauf eines Autos.

Der Autor war losgezogen und wollte ein paar Kleider für Denyse kaufen, die aus der Umstandsmode herausgewachsen war, und er kehrte mit einem Auto zurück. Das dürfte eine Überraschung für sie gewesen sein.

Als wir 2014 in New York und auf dem Empire State Building standen, hatten wir einen fantastischen Überblick über die Stadt. In Richtung Central Park sahen wir ein Gebäude, das noch im Bau war und sich prächtig zu entwickeln sollte. Es handelte sich um ein Haus, welches unter dem Namen 432 Park Avenue bekannt ist. Mit seinen 425 Metern war es zur Fertigstellung das höchste Wohngebäude der Welt und das dritthöchste Gebäude in den Vereinigten Staaten (das Ranking hat sich mittlerweile ein wenig geändert). Der Komplex wurde von privaten Investoren gebaut und mit seiner Lage gehört es zu den prestigeträchtigsten und teuersten. Auf 85 Stockwerken gibt es 125 Eigentumswohnungen und wer abends als Bewohner Hunger verspürt, muss das Haus nicht verlassen oder einen Lieferdienst rufen – ein Restaurant nur für die Bewohner rundet den Service ab. Technisch mag der Wolkenkratzer beeindruckend sein, ästhetisch ist es eine Nullnummer. Aber wer drin sitzt, muss ja auch nicht auf das Haus schauen.

Zuvor stand an der Stelle das Drake Hotel. In diesem nächtigte Simenon mit seiner Familie, als er im Sommer 1950 nach New York zurückkehrte. Zu den Gästen der Herberg gehörten früher prominente Persönlichkeiten wie Judy Garland, Jimi Hendrix und Glenn Gould. Auch Frank Sinatra war dort abgestiegen. Im Jahr 1973 wurden Led Zeppelin über 200.000 Dollar aus einem Schließfach im Hotel gestohlen. Der Dieb wurde nie gefunden, was die Band veranlasste, das Hotel zu verklagen.

Das Hotel hatte 21 Stockwerke, ein Witz gegen das, was heute dort steht, und 495 Zimmer. Diese waren sehr luxuriös und eine Innovation in dem 1926 gebauten Hotel war eine Klimaanlage, die für angenehme Temperaturen sorgen sollte. Die erste Diskothek New Yorks entstand im Nachtclub »Shepheard's«, der zum Hotel gehörte und in dem es gedruckte Tanzanleitungen für Disco-Tänze gab.

In diesem Hotel nun plante Simenon die weitere Zukunft.

Lakeville

Bei seinen Überlegungen spielte eine Rückkehr nach Europa eine große Rolle. Simenon konnte sich gut vorstellen, wieder in die alten Gefilde zurückkehren. Ihm schwebte dabei beispielsweise La Rochelle vor, von der er schreibt, dass er die Stadt sehr geliebt habe. Beim Generalkonsulat ließ er die Papiere prüfen. Der Mann, mit dem er dort sprach, redete ihm ins Gewissen: Die Zeiten wären sehr unsicher. In Korea bahnte sich gerade ein längerer Konflikt an, und da die Russen sich eingemischt hatten, befürchtete man auch für Europa das Schlimmste. Es herrschte eine gewisse Panik und mehr Europäer verspürten den Wunsch, in die Staaten zu emigrieren als zurückzukehren.

Der Mann hatte eine Empfehlung, wo die Familie sich niederlassen könnte. Leute, die es sich leisten konnten, würden sich in Richtung Connecticut, nördlich von New York, orientieren. Der schöne Landstrich, der dem Man vorschwebte, war nur zweihundert Meilen von New York entfernt. 

Simenon hatte schon davon gehört. Nun bekam er Lust, sich ein Bild davon zu machen.

Die Fahrt fand am 4. Juli statt und so erlebten die Simenons nicht nur einen schönen Sommertag auf dem Land, sondern auch Paraden zum Nationalfeiertag. Gegen Mittag machten sie Stopp, um ihren Appetit zu stillen:

»Wo sind wir?"
»Die kleine Kirche, die Sie unten an der Straße sehen konnte, gehört zu Lakeville. Der See heißt Navoscopohnuk ...«

Im Original ist abweichend von der Übersetzung von einem Novoscopohnuk, aber das macht das Ergebnis nicht viel besser. Meine erste Vermutung war gewesen, dass der Schriftsetzer beim Abtippen irre geworden ist. Der Ort hat in seiner Umgebung eine Reihe von Seen, ein Gewässer mit dem von Simenon genannten Namen konnte ich nicht entdecken. Es gibt ein See in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Ortschaft, der so ähnlich klingt: Wononskopomuc Lake. In einer Rateshow würde niemand damit durchgekommen, wenn er sich verteidigen würde mit: »Klingt doch aber so ähnlich!«

Vielleicht ist das Erinnerungsvermögen Simenons aber auch so gut, dass er die falsche Erklärung des Wirtes wiedergab. Der hatte ihnen erzählt, dass der Name »die Milch der geliebten Frau« bedeuten würde. Dieser käme aus dem Indianischen. Zumindest das glaube ich.

Der Mann, von dem Simenon das Gefühl hatte, er würde einen guten Reiseführer abgeben, erzählt ihnen auch, dass es in Lakeville eine sehr bekannte Vorschule gäbe, die »Hotchkiss School«. Simenon fragte daraufhin zurück: »Wie die Automobile?« und bekommt zur Antwort, dass es sich vielmehr um Waffenhersteller handeln würde, die nach Frankreich ausgewandert waren. Die Autos hätten sie hergestellt, da das Waffengeschäft nicht immer gut ging. Das ist korrekt, aber es gibt Raum für Anmerkungen.

Unweit von Lakeville wurde Benjamin B. Hotchkiss 1826 geboren. Simenon schreibt, dass ihm der Wirt gesagt hätte, die Brüder hätten ein Fahrradgeschäft in Lakeville gehabt. Das erscheint ein wenig unwahrscheinlich, denn die ersten Fahrräder (die auch so bezeichnet wurden) wurden 1853 entwickelt und kamen vermutlich in den 1860er-Jahren in die Vereinigten Staaten. Zu der Zeit war Hotchkiss schon als Waffenbauer angestellt und beschäftigte sich mit Revolvern und Gewehren. Der Irrtum ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass die Eltern eine Metallwarenmanufaktur besaßen. 

Hotchkiss hatte er eine Reihe von Patenten auf Projektilen für Gewehrartillerie. Während des Bürgerkriegs zwischen 1861 und 1865 war der Mann gut beschäftigt und Fahrräder, nun ja, standen nicht in seinem Fokus. Nach dem Krieg sah es anders aus. Die Regierung hatte kein großes Interesse an seinen Entwicklungen und so entschloss er sich, statt Fahrräder zu bauen, nach Frankreich zu gehen.

Dort entwickelte er für die von ihm gegründete Firma, die seinen Namen trug, die Hotchkiss-Kanone. Er hatte in Händchen für den richtigen Zeitpunkt, denn schon zum Deutsch-Französischen Krieg hatte er sich als wichtiger Lieferant für die französische Armee profiliert.

Er starb 1885 im Alter von 58 Jahren und konnte nicht mehr mit erleben, wie seine Firma weiterentwickelt wurde. Für Simenons Geburtsjahr ist vermerkt, dass das erste Hotchkiss-Auto hergestellt wurde. Das Emblem des Fahrzeugs war ein Paar gekreuzter Kanonen, über die Angemessenheit von Symbolen hatte man sich damals offenbar weniger Gedanken gemacht. Bis 1971 gab es die Marke, auch wenn sie zu dem Zeitpunkt schon ein paar Mal verkauft wurden.

Hotchkiss starb in Paris und kehrte nicht mehr in seine Heimat zurück. Dort lebte seine Witwe mit zwei Kindern, die nicht mit ihm nach Europa gezogen war. Der Mann wollte in Frankreich nicht allein bleiben und heiratete 1867 erneut. Geschieden wurde seine erste Ehe nie. 

Das Erbe fiel an seine erste Ehefrau Maria Bissell Hotchkiss. Die nun sehr wohlhabende Frau wurde von dem damaligen Präsidenten der Yale University, Timothy Dwight, überzeugt, eine Vorschule zu gründen. Sie spendete für die Institution das Land, die Gebäude und gründete eine Stiftung. Die Schule kaufte auch den Bauernhof, in dem die Gründerin geboren wurde. Zwei Jahre nach der Gründung der Schule gründete sie auch eine Bibliothek, die in Sharon beheimatet war.

Die Simenons kehrten von dem Ausflug nach New York zurück. Dem Hoteldirektor des Drake konnten sie verkünden, dass sie noch kein Haus gefunden hätten … aber eine künftige Heimat.