Unterschrift

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Es ist vielleicht keine wirklich gute Nachricht, wenn ich hier verkünde, dass die »Intimen Memoiren« im Augenblick auf Platz 712 der Amazon-Bestseller-Liste stehen, weil ich noch einschränkend hinzufügen muss, dass dies nur in der Rubrik »Geschichte & Kritik - Europäische Literatur« gilt. Es gibt noch zwei weitere Kategorien, wo der Platz im vier- bzw. fünfstelligen Bereich liegt. Ich verstehe das ganz gut.

​Seit einem Jahr kämpfe ich mich Kapitel für Kapitel durch das Buch. Die peinliche Kennenlernzeit mit D. scheint nun vorbei zu sein und ich bin mit Simenon und seiner erweiterten Familie auf dem Weg nach Süden. Einigermaßen kundig in der Biographie von Simenon bin ich mir aber ziemlich sicher, dass bald wieder schwere Zeiten für mich als Leser anbrechen werden.

Aber wie erwähnt, erst einmal habe ich das Vergnügen der Fahrt mit Simenon durch Amerika, was einen sofort an die Reportage »Durch Amerika mit dem Auto« erinnern lässt. Diese wird von Simenon auch thematisiert, allerdings mit einem gewissen Widerwillen, was wohl weniger an seinen Beobachtungen liegt, sondern daran, dass er die Zwischenüberschriften in der Veröffentlichung schrecklich fand.

Die Mutter, die Geschwister

Das Kapitel beginnt mit dem Kennenlernen der Mutter von Denyse. Simenon hatte den Eindruck, als ob sich die Mutter hinter ihrem Auftreten verstecken würde. Sie gab sich hart, war aber im Grunde ihres Herzens schüchtern. Ich habe herausgelesen, dass er bei dem ersten Treffen keinen rechten Zugang zu der Frau gefunden hat. Er gibt aber ganz klar zu verstehen, dass er später ein herzliches Verhältnis zu der Mutter von Denyse hatte.

Denyse hatte noch vier Geschwister: Das erste Kind der Familie war ihre Schwester, mit der sie ein Zimmer teilte. Ein Trauma für Denyse, denn ihre Schwester durfte die Gestaltung des Zimmers festlegen – das Privileg des Älteren – und sie wählte die Farbe grün als Thema. Alles war grün. Denyse mochte die Farbe grün deshalb überhaupt nicht. Ansonsten erfährt man beim Lesen des Abschnitts, dass es in dem Haus nur ein Badezimmer gab, weshalb eine gewisse Ordnung bei der morgendlichen Aufsteh-Prozedur einzuhalten galt. Mich irritierte die Betonung darauf etwas, ich denke mal, dass dies keine Besonderheit in der Zeit war. Simenon selbst war auch nicht in gerade gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und die Anzahl der Badezimmer dürfte die Zahl »1« nicht überstiegen haben. Es mag sein, dass dies vielleicht in der Relation zu der Größe des Hauses in einem Widerspruch stand, aber Platz ist in Nordamerika halt nicht das große Thema; die Installation eines Bades wahrscheinlich schon.

 

Dann gab es noch drei Brüder, von denen aber vorher schon berichtet wurde.

Die Leica

In Boston platzte ein Reifen und Simenon musste sich eine Werkstatt zur Reparatur suchen. Er war einigen Belastungen ausgesetzt gewesen, dieser Reifen. Die Tour führte hatte die Familie durch Maine geführt und fuhr man zu der Zeit noch über Schotterpisten. Das fand ich interessant, weil ich gedacht hätte, dass man zu der Zeit in Amerika schon weiter gewesen wäre. Man lernt wirklich nie aus und ich kann mich jetzt gerade noch zurückhalten, um mich nicht die Geschichte des Asphalts einzulesen. Ich hätte diesen Beitrag sicher auch schon viel eher geschrieben, wenn ich beim letzten Versuch nicht angefangen hätte, eine Reiseroute für eine Reise durch Amerika zu entwickeln und darüber vergaß den Beitrag zu schreiben (und schon wieder muss ich mich bös zurückhalten).

Es entwickelte sich ein kleines Abenteuer daraus, denn die Boston-Ankömmlinge mussten feststellen, dass der herbeigesehnte und bis dato vermisste Luxus ihnen auch hier nicht vergönnt sein würde. Es fand eine Convention statt, weshalb alle Hotels ausgebucht waren. Letztlich landeten sie in einer Pension.

Der Besitzer der Werkstatt war wohl auch nicht besonders vertrauenserweckend gewesen und machte den Eindruck, als sei er einem der Schwarz-/Weiß-Filme entsprungen, in denen sich Gangster umnieteten. Zwar hatte das Automobil nach der Reparatur einen neuen Reifen, aber im Gepäck fehlte eine Kamera – seine geliebte Leica. Simenon trauerte dieser nach, denn sie hatte ihn auf vielen Reisen begleitet. Das ist gerade jetzt interessant, denn im Herbst kommt bei Kampa ein Bildband heraus, der den Titel trägt »Die Jahre mit der Leica: 1931-1935«. Da kann ich jetzt besserwisserisch auftrumpfen und sagen: »Aber das ging doch bis 1946!« Oder ich kann die vage Hoffnung äußern, dass es vielleicht irgendwann noch einen zweiten Bildband gibt.

Weiter in den Süden

​Die Reise führte die Truppe weiter Richtung Süden. Sie verbrachten einen Tag in Washington und in dem Abschnitt gibt es folgende interessante Passage:

Das Weiße Haus; in bestimmten nahegelegenen Vierteln die hochherrschaftlichen Häuser der Bonzen; eine Menge Farbiger, von denen einige stolz in einem rosa Cadillac fuhren.

Was ich nicht wusste, dass das Wort Bonze ursprüngliche buddhistische Mönche beschrieb. Das Wort war für mich immer ein Schimpfwort oder zumindest eine etwas anrüchige Bezeichnung für einen mächtigen Menschen. Es sagt nich nur aus, dass jemand mächtig ist. Man unterstellt auch, dass die Position nicht immer mit rechten Mitteln erlangt worden ist. Die Wikipedia lehrte mich, dass das Wort schon seit 1767 als Schimpfwort benutzt wird und auch noch die Erfindung eines deutschen Dichters ist. Wie man nun darauf kommt, für ein ganzes Viertel zu entscheiden, dass sich dort ein Menschenschlag niedergelassen hat, der gewissermaßen korrupt oder korrumpierbar ist, erschließt sich mir nicht ganz. Im gleichen Satz bringt Simenon dann auch noch die Information um, dass bestimmte Menschen – Farbige – stolz in teuren Autos herumfuhren. Er hat den Text in den siebziger Jahren geschrieben – hätte er es nicht anders formulieren können. So klingt es – im besten Fall – komisch. Man kann es aber auch anders auffassen.

Kann es noch besser werden? Oh ja! Denyse, Marc und Simenon kamen in eine Südstaaten-Stadt. Die Weißen waren in der Unterzahl und laut Simenon veranstaltete man im Hotel ein kleines Fest, welches mich ein wenig Grübeln lässt, und bei dem der große Simenon dem kleinen Simenon erklärt:

»Von hier an, mein kleiner Marc, darfst du nie das Wort Neger in der Öffentlichkeit aussprechen?«
»Warum, wenn es doch Neger sind?«
»Weil für sie das Wort eine Beleidigung ist. Du kannst höchstens Schwarzer sagen.«
»Ist das nicht das Selbe?«
»Nicht im Süden. [...]«

Eine andere Zeit, andere Sitten – wie es so schön heißt. Aber wenn Simenon schon weiß, dass das Wort eine Beleidigung ist, warum bringt er seinem Sohn nicht bei, dass er es möglichst nie verwendet? Und warum kommt die Belehrung erst zu dem Zeitpunkt, da die Farbigen in der Überzahl sind? Im Norden war es also völlig in Ordnung, das Wort zu verwenden, weil es da weniger beleidigend ist. Meine Fantasie reicht nicht so weit, mir das vorstellen zu können.

Also kommt nur mir das schräg und opportunistisch vor? Ach ja: Und wäre es nicht klüger gewesen, diese Anekdote – in den Siebzigern niedergeschrieben – vielleicht einfach wegzulassen?

Tigy spielte übrigens in dem Abschnitt keine große Rolle, sie fuhr mit der Erzieherin in einem zweiten Auto auf einer ganz anderen Route. Wir erfahren aber noch, dass sowohl der kleine Simenon wie auch der große Schlafwandler waren.