
Bildnachweis: Innenbereich der Metro 1936 – Public Domain
Maigret und die Metro
Die Antwort auf die Frage, warum Busse und auch die Metro in den ersten Maigret-Geschichten keine große Rolle spielten, lässt sich recht schlicht beantworten: Die Stories spielten zu einem großen Teil außerhalb von Paris und somit stellten sich die Frage der Bewegung im öffentlichen Raum für den Kommissar nicht. Spätestens in den 1940er-Jahren wurde das anders.
Irgendwie hat sich bei mir festgesetzt: Maigret fährt Bus und er liebt es, auf der offenen Plattform zu stehen. Das Fahren mit der Metro ist für ihn nichts.
Nun ist das keine Erkenntnis, die ich gewonnen hätte, weil ich mich intensiv mit dieser Frage beschäftigt habe – vielmehr scheint es so, dass dies als Tatsache mich herangetragen wurde. Also wird es Zeit, eine Betrachtung des Sachverhaltes vorzunehmen.
Aber warum die Frage? Durch einen edlen Spender wurde mir ein Metro-Plan aus dem Jahr 1936 zugespielt. Ihn hier einfach einzustellen, wäre langweilig gewesen. Das mit der Frage nach dem Verhältnis Maigrets zu diesem Transportmittel zu verbinden, schien ein Beitrag wert zu sein.
Zuerst Bus oder zuerst Metro?
Der Punkt geht ganz klar an den Bus. In den allersten (offiziellen) Maigrets werden Busse von Simenon erwähnt. Aber erst in »Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes«[MKUKEM] besteigt er in einer Geschichte einen Omnibus. Dazu heißt es:
Der Kommissar verließ den Palais de Justice allein, ohne vorher in seinem Büro am Quai des Orfèvres vorbeizuschauen, nahm einen Bus Richtung Bastille und klingelte im dritten Stock eines Wohnhauses an der Rue du Chemin-Vert.
In diesem Fall ist das ein neutraler Begriff, der von Simenon für das Besteigen des Busses verwendet wird. In späteren Geschichten ist Busfahren allzunoft mit Action verbunden. Denn der Kommissar bestieg nicht gesittet einen Bus, nein, er sprang auf ihn. Man möge sich vorstellen, was die Chauffeure von öffentlichen Verkehrsmitteln heute sagen würde, wenn Passagiere einfach auf ihre Gefährte springen würden. Vielleicht wäre es auch eine Recherche wert, wie viele Unfälle es zu der damaligen Zeit gegeben hat, weil sich »versprungen« wurde und man dann unter dem Bus oder dem nachfolgenden Gefährt landete.
Der Plan


Das Wissen um die Metro
Nun ist es nicht so, dass Maigret nicht um die Metro gewusst hätte. Schließlich gab es genügend Stationen, die mit ihren Zeichen auch das Stadtbild prägten. Eine erste Erwähnung der U-Bahn findet sich in »Maigrets Nacht an der Kreuzung«[MNAK], in der es heißt:
Gegen sechs hatte der Ansturm auf die Metrostationen und Bahnhöfe begonnen, [...]
In den folgenden Romanen waren es immer die anderen, die in den Metrostationen verschwanden, aus ihnen hervorkamen oder mit der selbigen sich in Paris fortbewegt hatten. Simenon hatte eine seltsame Scheu, den Kommissar in die Bahn zu stecken. Schon in »Maigret und das Schattenspiel«[MScha] gab es jedoch eine Szene, aus der hervorging, dass er nicht abgeneigt war, mit dieser zu fahren. Nur war es so, dass er keine Gelegenheit hatte:
Sie machte keine Anstalten zu gehen. Den Blick auf den Boden gerichtet, fügte sie hinzu:
»In welcher Gegend wohnen Sie?«
»Ganz in der Nähe, am Boulevard Richard-Lenoir.«
»Jetzt fährt keine Metro mehr, nicht wahr?«
»Ich glaube nicht.«
Das ist jedoch nur eine wohlwollende Interpretation meinerseits. Wahrscheinlicher wäre gewesen, dass Maigret in diesem Fall den Weg nach Hause zu Fuß gegangen wäre – schließlich befand er sich an der Place des Vosges und von dort aus waren es zwanzig Minuten, das war ein netter Spaziergang für ihn, auch wenn es mitten in der Nacht gewesen war.
Eine ausgesprochene Abscheu gegen die Metro hegte der Kommissar nicht, aber er mochte seine Bequemlichkeit. In »Maigret verliert eine Verehrerin«[MVEV] trifft er eine Entscheidung:
Als er das Coupole verließ, war sein Schritt ein anderer als beim Betreten und Verlassen des Kinos. Taxi!
Sollte der Kassierer doch Schwierigkeiten machen, der behauptete, die Metro sei das schnellste Verkehrsmittel, um von einem Punkt der Stadt zum anderen zu gelangen.
Ihm war das egal. Ob seine Inspektoren sich auch so leicht und flockig auf die Diskussion mit einem Buchhalter eingelassen hätten, darf bezweifelt werden. Überhaupt waren diese viel zeitiger in den Geschichten mit der Untergrundbahn unterwegs. Das war schon dem Aspekt geschuldet, dass die Leute zu verfolgen hatten. Und diejenigen, die nicht betucht waren und schnell von einem Ort in Paris zu einem anderen wollten – der Kassierer hatte es erwähnt –, für die war die Metro die Wahl.
Deshalb ist die Metro in den Maigret-Geschichten immer wieder präsent.
Das Geständnis
Wann nun haben wir die erste Erwähnung, dass Maigret die Metro nahm? Da mussten die Leser fast zwanzig Jahre drauf warten. Erst in dem 1949 entstandenen Roman »Maigret und die alte Dame«[MAD] steht geschrieben, dass der Kommissar sich dieses Verkehrsmittels bedient:
Um fünf Uhr morgens war er aufgestanden und mit der ersten Metro zur Gare Saint-Lazare gefahren, denn ein Taxi hatte er nicht bekommen.
Auch hier haben wir das Eingeständnis, dass Maigret das nicht besonders gern getan hätte. Hätte eine Droschke zur Verfügung gestanden, hätte er die genutzt. Aber so haben wir ihn – den Kommissar – in einem U-Bahn-Zug.
Interessanterweise wurde diese Metro-Scheu Madame Maigret nicht aufdoktriniert. Sie scheint ganz selbstverständlich dieses Verkehrsmittel zu nutzen, auch wenn wir erst davon in dem im gleichen Jahr erschienenen Roman »Madame Maigrets Freundin«[MMF] erfahren.
Mit den beiden Erwähnungen scheint aber ein Damm gebrochen zu sein, denn ab diesem Zeitpunkt wird nicht mehr der Eindruck erweckt, die Metro seit etwas der Anderen und ein wenig ungewöhnlich im Mobilitätsleben von Maigret zu sein.
In »Maigret und die Tänzerin«[MT] macht er sich mit Lapointe auf den Weg zu einer Metrostation und vermutlich nicht, um die Haltestelle zu besuchen, sondern um nach Javel zu fahren.
Wenn der Kommissar schlechte Laune hatte, dann war Metro-Fahren für ihn nichts:
Er hatte den Polizeiwagen nicht warten lassen und stieg nun in die überfüllte Metro, was seine schlechte Laune noch verstärkte.
Er war mit allem und jedem unzufrieden, auch mit sich selbst. Wäre er jetzt Pardon begegnet, hätte er ihm vorgeworfen, dass er ihm überhaupt etwas von dieser riesigen, aufgeblasenen Schreckgestalt Lagrange erzählt hatte. Außerdem nahm er seiner Frau die Revolvergeschichte übel und hätte ihr fast die Schuld daran gegeben.
Das alles ging ihn nichts an. In der Metro roch es nach schmutziger Wäsche. Die immer gleichen Werbeplakate in den Stationen widerten ihn an.
Draußen empfand er die Sonne als übermäßig heiß und ärgerte sich auch über sie, weil sie ihn zum Schwitzen brachte.
Da er in »Maigret und sein Revolver«[MSR] sowieso schlechte Laune hatte, konnte man jetzt nicht alles dem Verkehrsmittel zuschreiben. Auch die Sonne, die Maigret üblicherweise mochte, war ihm an diesem Tag in ihrem Wirken nicht recht. Einen guten Grund hatte er – sein geschenkter Revolver war ihm gestohlen worden – und zu allem Überfluss hatte ihm einen junge Frau ihm mit auf dem Weg gegeben, er hätte noch viel zu lernen. Ausgerechnet ihm!
In »Maigret und der Minister«[MMi] werden die Vorteile der Metro hervorgehoben. Dem Kommissar ist klar, wie schnell er von einem Ort in der Stadt zu einem anderen kommt. Und in »Maigret und die kopflose Leiche«[MKLe] werden wir Teil des Entscheidungsprozesses, ob die Metro genommen wird oder nicht. Ist das Wetter schön, dann findet es Maigret schade, mit der Metro zu fahren. Andererseits kann der Aspekt, dass eine Sache unwichtig ist, dazu führen, dass er sich für die U-Bahn entscheidet. Ganz im Sinne des Kassierers, der sich über die geringeren Reisekosten freut. (Kleiner Nebengedanke: Nie ist zu lesen, dass Maigret mit seiner Reisekostenabrechnung beschäftigt ist – immer nur ist es ein Vorgang, in dem es um die Auswertung derselben geht.)
In »Maigret amüsiert sich«[MAS] erfahren die Leser:innen, dass die Maigrets privat nicht mit dem Geld prassen. Sie gönnen sich im Urlaub zwar einen Kinobesuch an einer prominenten Location, aber die Fahrt dorthin ist bodenständig:
»Warum gehen wir nicht ins Kino?«
Das wäre das zweite Mal in einer Woche gewesen, das hatten sie seit Jahren nicht mehr gemacht. Zur Abwechslung gingen sie diesmal jedoch nicht in das Kino in der Nachbarschaft, sondern fuhren mit der Metro zu einem großen Filmpalast an den Champs-Élysées.
Eine solche Erwähnung ist in »Maigret und der Samstagsklient«[MSa] zu finden, in dem es in den Montmartre mit Madame Maigret gehen soll.
Madame Maigret zog ihren Persianermantel an, und er band seinen dicksten Schal um.
»Wo willst du hingehen?«
»Zum Montmartre.«
»Ach ja, du hast ja schon gestern davon gesprochen. Wollen wir mit der Metro fahren?«
»Dann ist es wärmer …«
Sie stiegen an der Station Place Blanche aus und gingen dann langsam die Rue Lepic hinauf, in der die Fensterläden der Geschäfte geschlossen waren.
Das ist ein Indiz, wie sehr die Metro zum Alltag der Maigrets gehörte. Vielmehr, wie sie Teil der Normalität des urbanen Lebens der beiden wurde – denn in den frühen Geschichten war davon keine Spur zu finden. Das gilt aber – nebenbei bemerkt – für Freizeitaktivitäten ganz allgemein. Wie sich auch in der Szene aus »Maigret verteidigt sich«[MVS] zeigt:
Sie stiegen beide zur Metro hinunter. [...] Daran dachte er selbstironisch, als er neben seiner Frau in der Metro saß und wie alle anderen hin und her und vor und zurück geruckelt wurde.
In »Maigret hat Skrupel«[MHS] hätte Maigret gern die Metro genommen, nur hatte sie wieder geschlossen. Wie schon zuvor erwähnt, fuhr die Metro nicht die ganze Nacht. Zur Eröffnung soll sie bis 22 Uhr gefahren sein, in der Nachkriegszeit dann bis Mitternacht. Heute wird die Betriebszeit von 5:30 Uhr bis 0:40 Uhr angegeben, an Wochenenden eine Stunde länger.
Wieder eine kleine Nebenbemerkung: Wer nach dem Betriebsschluss der Metro auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, der kann Nachtbusse nutzen, die es in Paris gibt. Das ist keine moderne Erfindung. Da ich keine Quellen mit einem exakten Jahr finden konnte, belassen wir es bei einem ungefähren Zeitraum: in den 1910er-Jahren soll der Betrieb der Nachtbusse aufgenommen worden sein. Theoretisch wäre es bei den späten Unternehmungen Maigret auch möglich gewesen, den Nachtbus zu nehmen – aber wen wundert es jetzt, dass Nachtbusse im Maigret-Œuvre kein einziges Mal erwähnt werden.
Dass die Gerüche in der Metro nicht immer ganz angenehm sind, wird in »Maigret und der faule Dieb«[MFD], in dem angeführt wird, dass es in einem Raum nach Reinigungsmitteln riechen würde, so wie in der Untergrundbahn.
Aus den Schilderungen Simenons lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie die Bahnen fuhren. In »Maigret in Künstlerkreisen«[MIK] begibt sich Maigret von der Metro-Station Boulevard de Grenelle zu einer Metro-Station in der Nähe seines Büros. Die Dauer dieser Reise wird auf 30 Minuten taxiert. Die Dauer der Fahrt ist plausibel.
Die Nutzung der Untergrundbahn war offenbar eine sehr ambivalente Angelegenheit. In dem gleichen Text formuliert Simenon Maigrets Metro-Emotionen derart:
Er selbst fuhr nur mit der Metro, wenn ihm nichts anderes übrig blieb, denn er hatte dort jedes Mal das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
Auch in dieser Angelegenheit ist es mal so, mal so. Denn dieses »nichts anderes übrig blieb« ist dem Kommissar kaum abzunehmen. In Paris hat man immer die Option, mit Bussen voranzukommen – in den Anfangszeiten sogar ebenso mit der Straßenbahn. Wie zuvor schon erwähnt, hatte der Kommissar ein ausgeprägtes Faible für Komfort. Weshalb es in »Maigret zögert«[MZ] an einer Stelle heißt:
Er hatte keine Lust, den Bus oder die Metro zu nehmen. Erschöpft ließ er sich auf den Rücksitz eines Taxis fallen.
Der Mann wollte hin und wieder seine Ruhe haben. Lieber ließ er sich später auf eine Diskussion mit der Reisekostenabteilung und ihren Prüfern ein, als sich irgendwo in einen Bus oder eine U-Bahn zu drängen.
Dass Maigret der Nutzer von öffentlichen Verkehrsmitteln war (oder besser wurde), lässt sich auch im letzten Maigret nachlesen. Dass er das mit Genuss tat, lässt sich nicht behaupten. Wann immer sich die Gelegenheit bot, griff er lieber auf ein Taxi zurück. Während in der ersten Dekade die Nutzung der U-Bahn in den Geschichten für den Kommissar kaum eine Rolle spielte, wurde sie in den Nachkriegsstories gewöhnlich. Bemerkenswert ist, dass in den letzten Maigrets die Bedeutung des schnellsten öffentlichen Verkehrsmittels von Paris wieder abnahm.
Sich auf den Metro-Spuren von Maigret zu bewegen, ist nicht leicht. Mir fallen da nur die beiden Routen Boulevard Richard-Lenoir Richtung Montmartre ein sowie Boulevard de Grenelle in Richtung Quai des Orfèvres. Da damit jedoch weder ein Erkenntnisgewinn verbunden sein wird noch ein besonderes Vergnügen, kann man das gleich lassen und die Zeit in Paris mit Sinnvollerem verbringen.
Am besten lässt sich die Nutzung der Öffentlichen mit der Bemerkung aus dem Roman »Maigret und Monsieur Charles«[MMC] zusammenfassen:
Dass er ein Taxi nahm, sprach Bände, denn für gewöhnlich fuhr er mit dem Bus oder der Metro.