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Gekürzt
Reader’s Digest war eine Versprechung wie einst die Krönung und es gab eine Zeit, da kam man weder um das eine noch das andere rum. Für die, die sich nicht mehr erinnern (mögen): In den Heftchen wurden die besten und wichtigsten Zeitungsartikel aus aller Welt wiederveröffentlicht. Das besagte zumindest die Werbung und wie sollte das Marketing auch anders herangehen als mit Superlativen?
Ganz ausgestorben ist das Magazin nicht, aber heute werden hauptsächlich eigene Beiträge veröffentlicht. In Deutschland wird das Heft von der Reader’s Digest-Tochter Das Beste herausgegeben. Jeder, der in den 1950er- bis 1990er-Jahren lesen konnte, wird eine der Ausgaben irgendwo mal erblickt haben – vermutlich am ehesten in einer Arztpraxis. Das hat sich ein wenig überlebt. Heute sind dort, wenn überhaupt, neben den Klatsch- und Autozeitschriften vielleicht noch SPIEGEL, Stern oder Focus anzutreffen – und als Ersatz für Reader’s Digest die Geo. Wie die Zeiten sich wandeln. Das Magazin gibt es noch, aber es werden hauptsächlich eigene Beiträge präsentiert.
Ein Geschäftszweig des Unternehmens war die Herausgabe von Sammelbänden von Romanen. Da gab es dann drei Geschichten in einem Band und jeder von ihnen war leicht gekürzt. In einer Konversation wurde an mich die Frage herangetragen: Was denn da wie und um wie viel gekürzt worden wäre. Die Lösung zu der Frage erschien mir sehr mühsam – wer will schon Seite für Seite vergleichen? Denn ich will ehrlich sein: Das hier ist ein Hobby und ich habe nicht wie eine Professorin oder ein Professor irgendwelche studentischen Hilfskräfte an der Hand, die diese spannende, wenn auch langweilige Aufgabenstellung bearbeiten würden.
Würde man meine Texte einer KI vorwerfen, die würden daraus einen Einheitsquatsch machen, der nach vielem klingt, aber nicht nach mir. Will heißen, diese Lösungen sind nicht so meins. Sie als Hilfsmittel zur Recherche einzusetzen, da habe ich keine Scheu. Vorgenommen habe ich mir den Roman »Maigret stellt eine Falle«.
Die Aussagen des Tools sind von mir geprüft worden (das war auch notwendig). Bei den Schätzungen verlasse ich mich ganz auf Zahlen, die von dem Programm ermittelt worden sind.
Bestimmte Festlegungen kann ich getrost beiseitelassen – schließlich hat sich die Nutzung unserer Sprache in den letzten Jahren geändert. (Diejenigen, die bei Reformen der Rechtschreibung schreien oder die Transformation unseres geliebten Deutsch ins Moderne aufjaulen, empfehle ich eines: Lesen Sie sich Texte durch, die vor sechzig Jahren veröffentlicht wurden und die nicht zwischendurch redigiert worden sind. Da sollte sich die Frage, ob sich die Sprache ändert, wirklich erledigt haben. Obwohl ganz putzige Worte verwendet worden sind!)
Der Blick auf das Ganze
Hätte ich nicht gedacht, aber die Kürzung in dem Text beträgt etwa 10 bis 15 Prozent. Ich hätte durchaus mehr erwartet. Bei der Betrachtung des Fallen-Romans wäre ich davon ausgegangen, dass es viel drastischere Kürzungen gegeben hätte. Schließlich hat der Roman nur 79 Seiten und davon gehen noch einige ab, die für ganzseitige Illustrationen verwendet worden sind.
Aus dem Impressum lässt nicht ableiten, aus welcher Sprache die Geschichte übersetzt worden ist. Bei Reader’s Digest handelt es sich um ein amerikanisches Unternehmen. Anzunehmen ist, dass die Veröffentlichungsrechte zentral ausgehandelt worden ist und in der Unternehmenszentrale auch die Kürzungen festgelegt worden ist. Schwer vorstellbar ist, dass die Entscheidung von dem Verlag an die Übersetzenden delegiert worden ist. Über Bettina Berger habe ich nicht weiter recherchiert, aber Heinz von Sauter hat sowohl englische/amerikanische wie auch französische Titel übersetzt.
Die Reader’s Digest-Ausgabe verzichtet auf die Kapitelüberschriften. Damit würde man die Kürzungsfans nicht zufriedengestellt bekommen haben. Somit stellt sich die Frage, was in dieser Ausgabe weggelassen wurde.
Hat Simenon Szenen ausführlicher beschrieben, so ist die Chance groß gewesen, dass das den Reader’s Digest-Leuten nicht recht gewesen ist. Auch bei Details wie der Beschreibung der Mordopfer hat man sich kürzer gehalten. Wird in der Kampa-Ausgabe sich an dem Original orientiert und langsam und ausführlich erzählt, wird bei der gekürzten Variante der Rotstift gezückt.
Zudem kommt, dass es Unterschiede in den Formulierungen gibt. In der Kampa-Ausgabe wird eine bildhafte Sprache verwendet, während in der RD-Variante sehr sachlich formuliert wird. (An dieser Stelle wäre ein Kreuzvergleich mit früheren Übersetzungen interessant.)
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Ein paar Beispiele
Das zuvor erwähnte Zackige ist auch in den Dialogen zu beobachten. Angeführt wird als Beispiel dieser Austausch:
»Wir haben Ihren Rock wiedergefunden, Monsieur Moncin.«
Moncin öffnete den Mund, schwieg aber. Was hatte er sagen wollen?
Abgesehen von der lustigen Bezeichnung »Rock« für ein »Jackett«, sieht man, dass Moncin in der aktuelleren Ausgabe gar nicht so sprachlos ist:
»Wir haben Ihr Jackett gefunden, Monsieur Moncin.«
»An den Quais?«
»Ja.«
Er öffnete den Mund, schwieg dann aber doch. Was hatte er fragen wollen?
Unzweifelhaft bringt die Auslassung die Story nicht voran. In der Straffung der Dialoge und dem Verzicht auf Wiederholungen wird jedoch ein Teil der authentischen Gesprächsatmosphäre aufgegeben. Denn die Frage, was er habe sagen wollen, ist in der Kampa-Variante viel dringlicher.
Das wird auch deutlich, wenn die Bemerkung Maigrets gegenüber einem Verdächtigen betrachtet wird:
»Ich will Ihnen sagen, was ich von Ihnen denke. Sie sind wahrscheinlich krank, denn ich kann nicht glauben, dass ein geistig gesunder Mensch tun würde, was Sie getan haben. Aber diese Frage müssen die Psychiater beantworten. Umso schlimmer für Sie, wenn man Sie für zurechnungsfähig hält.«
Dieser starke Tobak, den der Kommissar dort von sich gibt, steht sinngemäß auch in der Reader’s Digest-Ausgabe. Allerdings wird der letzte Satz weggelassen. Dabei ist das ein wesentlicher Teil des von Maigret Gesagten, weil dem Verdächtigen Konsequenzen aufgezeigt werden. Denn die Kette ist ganz klar: »nicht geistig gesund« → Heilanstalt; »geistig gesund« → im schlimmsten Fall die Todesstrafe.
Irgendwie muss die Kürzung zusammenkommen. Konzentriert haben sich die Zusammenstreicher dabei – wie schon zuvor angeführt – auf Passagen, die Beschreibungen enthielten. Aber auch die Gedankenwelt Maigrets fiel den Streichungen zum Opfer. Beispielsweise wurde diese Passage komplett weggelassen:
Er konnte es kaum erwarten, den Mann leibhaftig vor sich zu sehen, ein Gesicht mit markanten Zügen, eine menschliche Gestalt statt dieses Schattenwesens, das manche »den Mörder«, »den Wahnsinnigen« oder auch »das Ungeheuer« nannten und das Tissot unwillkürlich, als hätte er sich versprochen, als »Patienten« bezeichnet hatte.
Die Ausführungen des Professors zum Geisteszustand waren für Maigret nicht nur als Ermittler interessant, sondern auch als Mensch. Nicht zu vergessen ist, dass er vor seiner Laufbahn als Polizist ein Studium in der Medizin begonnen hatte und sich aus diesem Grund schon für solche Aspekte interessierte.
Während das in der Kampa-Story durchaus ein Thema ist, wird dieser Gesichtspunkt in der Kurzfassung geopfert. So wundert es nicht, dass Reflexionen über den Täter, die Maigret für sich anstellt, dort nicht zu finden sind.
Es gibt ein Fazit!
Das schöne Analysetool stellt fest, dass beide Versionen die Kernhandlung und Hauptcharaktere bewahren. Die Kampa-Ausgabe wird dafür »gelobt«, dass sie eine tiefere psychologische Durchdringung aufweist und mehr von Simenons charakteristischer atmosphärischer Dichte beibehält.
Die Reader’s Digest-Version würde eine straffere, zugänglichere Leseerfahrung bieten. Daraus ergeben sich auch Leserschichten-Empfehlungen abgegeben: Die Kampa-Ausgabe würde sich an Literaturliebhaber richten, die die stilistische Raffinesse des Schriftstellers schätzen würden. Die Reader’s Digest-Leser wären die, die primär an der Handlung interessiert sind. Dafür wären in der Fassung Redundanzen eliminiert worden, alles Psychologische über Bord gegangen und der Text auf Lesbarkeit optimiert worden.
Wer subtile sprachliche Nuancen schätzt, der sollte bei den ungekürzten Ausgaben bleiben.


Dieses umfassende Werk vereint detaillierte Informationen über Simenons Werk, und ist ein unverzichtbares Nachschlagewerk für Sammler und Fans. Der erste Band der Simenon-Bibliografie – über die Maigret-Ausgaben – erschien am 31. Mai 2024.