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Die Reise (VI)
Das KI-Orakel hat sich nicht bewahrheitet. Da der letzte Teil mit Seite 45 schloss, wäre das Fortschreiben der Story mit dieser Prognose für Jung-Simenon sehr sportlich gewesen. Inhaltlich kann es noch eintreffen – allerdings, und da ist nicht zu viel verraten, nicht in diesem Part. Das Motto ist diesmal: »Erst einmal ankommen«. Die Herrschaften sind auf einer Insel gelandet.
Im »echten« vorherigen Teil dieser Beitragsserie wurde das Thema Rassismus ausführlich besprochen. In den Fortsetzungen zu dieser Geschichte werde ich diesen Aspekt nicht an jeder Stelle wieder thematisieren. An der Tonalität und Faktenvergessenheit wird sich im weiteren Verlauf nichts ändern. Wer diesen Roman liest, muss die Problematik im Hinterkopf haben und darf nicht anfangen, irgendetwas für bare Münze zu nehmen.
Warum das heute niemand mehr für das breite Publikum veröffentlichen will, ist mir klar geworden. Dagegen spricht, dass es einen Aufschrei geben könnte, die Zielgruppe der Simenon-Enthusiasten zu klein ist und die Verlage mit dem »offiziellen Werk« schon nicht hinterherkommen.
Steigen wir langsam in die Story ein …
Der Weg ins Dorf
Wir sind zu Beginn des neuen Parts bei Master John und seiner Crew. Sie rudern auf die Insel zu und der Kapitän steuert das Rettungsboot. Er hat das mulmige Gefühl, dass er den Ort kennen würde und prognostiziert die Lage des Dorfes richtig.
Seiner Erinnerung nach war er auf dieser Insel vor fünfzehn Jahren gewesen.
Master John war also schon einmal an diesem Ort gewesen. Mehr noch: Er war hier bereits im Boot gelandet. Und das entlockte ihm ein stummes Lächeln, dessen Bedeutung er allein zu verstehen vermochte.
Aber nicht nur das, schnell wird den Leser:innen klar, dass er damals nicht allein vor Ort war. Denn:
Auch Norcklid schien die Gegend zu erkennen.
Das Trio war offenbar auch schon auf der Insel gewesen. Aber Näheres bleibt weiterhin ein Geheimnis. Auf dem Weg zum Dorf erblickten sie zwei Einheimische, die an Pfähle in einem Fluss gefesselt waren. Offenbar litten sie unter der Folter. Aber weder erweckten sie den Eindruck, dass sie gerettet werden wollten (worüber sich ganz gewiss diskutieren ließe), noch machte die verbliebene Mannschaft Anstalten, sie zu befreien. Als sich Norcklid dazu äußert, bekommt er eine Retourkutsche von dem Anführer, die ein weiteres Mal das Gefühl bestärkt, dass es ein tiefes Geheimnis zwischen den vier Kumpanen (also dem widerborstigen Trio und dem Kapitän) gibt:
»Die Unglücklichen!«, rief er laut. »Wir werden sie doch nicht ...«
»Ha! ha!«, höhnte Master John. »Du bist recht menschlich geworden, mein alter James.«
»Das ist raffinierte Grausamkeit...«
»Hinderte dich nicht ... davon zu essen!«
Da es nur Sticheleien waren und weder die übrige Mannschaft daraus klug wurden, noch die Leser:innen, wunderte es nicht, dass der Boss schnell das Thema wechselte und Master John darüber spekulierte, dass sie vermutlich zu dem Festmahl eingeladen würden. Die Frage war, als was und eine klassische Einladung, so würde ich wetten, würde es nicht werden. Endgültig wird das in diesem Kapitel nicht geklärt.
Little Root stellte fest, dass es nur zwei wären, die an den Pfählen befestigt waren. Das war in seinen Augen sehr beunruhigend, denn es mussten drei sein. Das wäre Tradition. Und entweder würden die Dorfbewohner auf der Suche nach dem Geflohenen sein – der uns im vorherigen Teil schon begegnet ist – oder sie würden sich ein neues Opfer suchen.
Im Dorf herrschte Totenstille. Das lag nicht daran, dass die Inselbewohner auf der Jagd war. Die Vermutung war eher, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner versteckt hielten und erst einmal schauten, was die Ankömmlinge im Sinn hatten.
Durch den Verlust des Schiffes hatte Master John ein großes Problem. Ohne Geschenke in ein solches Dorf zu gehen, konnte sich als Wagnis herausstellen. Irgendwas hatte man dem Häuptling mitzubringen und sei es nur ausreichend Tabak. Was ohne die Gaben passieren würde, ließ sich nicht abschätzen.
Von der Kunst das Nichts zu verkaufen
Little Root wurde von Master John gebeten, nach dem Zauberer zu rufen. Er wollte nicht. Der Mann hegte Befürchtungen, die vor allem darauf fußten, dass den Einheimischen offenbar die dritte »Komponente« für das Ritual fehlte. Letztlich stieß der Kapitän düstere Drohungen auf und Little Root fügte sich.
Der Dorfzauberer war bereit, sich mit den Weißen zu treffen. Gewisse Indizien weisen im Text darauf hin, dass das Vertrauen der Einheimischen in die angekommenen Gäste nicht ausgeprägt war. Sie wollten drei Geiseln haben.
Wir kennen den Kapitän mittlerweile gut genug, um zu ahnen, nein!, zu wissen, dass er damit keine Probleme hatte. Genauso ist uns bewusst, wen er für die Aufgabe erwählen würde. Drei war gesagt worden? Er hatte drei, die in seinen Augen das Profil für Geiseln erfüllten.
Der Zauberer, der sich daraufhin blicken ließ, wird so von Simenon geschildert:
Es war der Zauberer höchstpersönlich, wie die tausendundein Gegenstände bewiesen, die seine Anatomie zierten: Sicherheitsnadeln, die in die Haut gestochen waren, Uniformknöpfe, Porzellanstücke, die in die Nasenlöcher eingelassen waren, und viele andere Dinge noch, eines unerwarteter als das andere.
Das charakteristischste war ein kleines Zahnrädchen eines Weckers, das an der äußersten Nasenspitze befestigt war und von unwiderstehlich komischer Wirkung.
Wie vermutet und befürchtet waren die Verhandlungen zäh. Die Weißen hatten nichts, was die als Verhandlungsmasse bieten konnten. Die Taschen der Besatzung wurden geleert und das, was aus diesen purzelte, wurde in die Waagschale geworfen.
Der Zauberer reagierte verschnupft. Mit so wenig, gab er zu verstehen, wäre hier noch niemand aufgetaucht. Die Zwangslage der Ankömmlinge verstehend – kein Boot und ausgeprägte Besitzlosigkeit –, konnte er mit einer Maximalforderung in die Gespräche gehen.
Wenn sie auch nichts hatten, für eines konnte sich der Zauberer begeistert. Für Little Root. Dass er nicht Gast in dem Dorf sein würde, war ihm klar, und so regte sich Protest bei ihm. Der Zauberer redete auf Nachfrage nicht um den heißen Brei herum: Little Root sollte verspeist werden, damit die Götter gnädig mit dem Volk sind.
Master John hatte keine Skrupel, seinen Mann als »Geschenk« zu übergeben, damit der Rest der Truppe die Gastfreundschaft genießen konnte.
Nachdem das geklärt war, kamen die Dorfbewohner aus ihren Verstecken und auch der Häuptling gab sich die Ehre. Er hieß Touah.
Die Gruppe, bis auf Little Root, der gemästet werden sollte, begab sich in die Hütte des Häuptlings. Diese war größer, die Schilderung des Interieurs hört sich aber nicht sehr prickelnd an. Genau genommen ist das eine der vielen Stellen denkt, warum sollte der große Vorsitzende des Stammes so leben, wie geschildert?
Der Boden bestand aus festgestampfter Erde, in die sich Abfälle aller Art mischten: Fischgräten, Bananenschalen und Kokosfasern.
Wenn jemand sein Leben im Griff hatte, dann war es der Häuptling. Für ihn gab es keine Notwendigkeit, im Müll zu leben. Alle waren ihn zu Diensten. Eine Mäßigung in der Nutzung von Stereotypen war nicht zu beobachten.
Der Häuptling berichtete den Männern, dass es spuken würde. Nicht auf der ganzen Insel, aber auf einem kleinen Teil schon. Unlängst erst hätte der Spuk einen der ihren getötet.
Master John und das Trio, das offensichtlich die Insel schon kannte, erschauerte. Sie hatten eine Ahnung und keine Lust, sich um die Angelegenheit zu kümmern.
»Trotzdem sollten wir besser nicht hingehen und nachsehen!«
Haargenau das jedoch war das Ansinnen des Häuptlings.
Edel sterben
Der Häuptling gab vor, dringende Angelegenheiten im Dorf erledigen zu müssen, und konnte deshalb nicht mit auf Expedition gehen zu können. Er stellte den Männern Boote zur Verfügung, Pfeil und Bogen sowie ein Gewehr, das bestenfalls museumswürdig war. Die Mannschaft stieg in die drei Boote und machte sich auf den Weg.
Die drei Pirogen fuhren gemeinsam voraus, dem Dorf den Rücken kehrend, und steuerten auf das Ende der Insel zu, um sich dem einsamen Felsen zu nähern.
Die Besatzung war alles andere als beruhigt. Bereits hatte sie zwei Mann verloren: Little Root, den die Schwarzen in einer Art Hühnerkäfig eingesperrt hatten, um ihn zu mästen, und den Matrosen, den beim Schiffbruch eine Welle mit sich gerissen hatte.
So blieben nur noch neun Mann übrig.
Die kommenden Seiten wird es für diejenigen schwer, die ihr Herz an die Mannschaft verloren hatten. Ein Pfeil traf einen bis dahin namenlosen, der für seinen Mut bekannt war. Weitere folgten, verfehlten glücklicherweise ihre Ziele.
Der Rückzug wurde angeordnet.
Master John war erbost. Nicht unbedingt, weil er einen Mann aus seiner Besatzung verloren hatte, und auch nicht, dass er – der Draufgänger – Deckung suchen musste. Was ihn zur Weißglut trieb, war der Pfeil selbst. Seine Spitze war aus Gold!
Es half ja nichts. Der Tod durch einen Pfeil war vielleicht angenehmer als später gebraten zu werden, weil der Schutz des Häuptlings nicht länger galt. Dann lieber das Risiko, schnell von einem Pfeil um die Ecke gebracht zu werden.
Sie sahen die Geschosse nicht kommen, es traf noch einige. Und Jef war nicht der einzige, der an diesem Tag den Haien als Mahlzeit serviert wurde. Selbst Master John wurde an der Hand erwischt. Wir kennen ihn mittlerweile so gut, dass wir wissen, dass ihn das nicht aufgeben ließ. Durch die Schmerzen in seiner zerfetzten Hand wurde er noch wütender und entschlossener.
Die Fahrt erstreckt sich über einige Seiten und ist eine sehr blutige, aufreibende Angelegenheit. Auch für die die Leser:innen.
Sie näherten sich der »Cobra« und stellten fest, dass sie befestigt war. Ein Hoffnungsschimmer. Von dort legten sie in der Bucht an, um den Feind, der sie übel weiter dezimiert und verletzt hatte, zu jagen.
Und wen fanden sie? Moses. Und Toubou.
»Das ist alles?«, fragte dieser. »Es gab keine anderen schwarzen Schurken in der Gegend? … Eine schöne Armee, wahrlich! Ein Gör und ein Wilder! ... Und die haben uns über zwei Stunden lang in Schach gehalten! Ohne Zweifel ist der Feind auf dem Eiland ebenso furchtbar! ... Ha! Bah! Meine Herren, man muss glauben, dass die Jahre Sie ganz außerordentlich verweichlicht haben! Sie dürfen stolz auf diesen Tag sein, nicht wahr? ... Welch ein Sieg! ... Welche Heldentaten! Zwei Stunden, um ein Kind und einen Kannibalen gefangen zu nehmen! ... Und die Hälfte unserer Truppe außer Gefecht gesetzt!
Die Frage, die er sich nicht stellte, die aber uns brennend interessiert: Wo war Jean?


Dieses umfassende Werk vereint detaillierte Informationen über Simenons Werk, und ist ein unverzichtbares Nachschlagewerk für Sammler und Fans. Der erste Band der Simenon-Bibliografie – über die Maigret-Ausgaben – erschien am 31. Mai 2024.