Die Reise (IV)


Auf den Punkt »habe ich entdeckt« werde ich später noch einmal zurückkommen. Mittlerweile habe ich im Netz ein PDF entdeckt, das dort sicher nicht sein sollte: »L’autre Univers de Simenon« von Michel Lemoine beschäftigt sich mit den Werken, die landläufig als Groschenhefte bezeichnet werden. In diesem findet sich auch etwas über »Les Maudits du Pacifique«.

Ich habe nur nach dem Jahr der Entstehung geschaut und nicht nach der Inhaltsangabe – schließlich will ich mir den Spaß nicht verderben (darauf wird dann noch einmal zurückzukommen sein). Wie ich vermutet hatte, ist das Werk vor 1929 entstanden. Allerdings nur knapp davor. Erschienen ist es im März 1928, sodass eine Entstehung 1927 ebenso möglich ist.

Den letzten Beitrag zu dem Thema hatte ich damit beendet, dass ich berichtete, dass es eine Meuterei gab, Master John gefesselt war und nach einer Rede von James Norcklid in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Begeben wir uns auf die Reise durch die nächsten zweiunddreißig Seiten.

Das Ende einer Meuterei

Ein Aufstand zu einem so frühen Zeitpunkt plus dem Verhalten des Kapitäns ließ schon erahnen, dass ein Erfolg nicht zu erwarten war. Andere Meuterer waren hartherziger und haben sich des Führers gleich entledigt. Nicht so James Norcklid, er ließ Master John erklären, warum er lachte:

»Ein kleines Wörtchen, wenn ich bitten darf, James!«, fuhr Master John fort... »Ha! Ha! Etwas sehr Amüsantes. Ich möchte ihnen von John den Ersten erzählen...«
Und der Gefangene wiederholte mehrmals, plötzlich ernst:
»Es gibt viel über John den Ersten zu sagen...«

Ein kurzes Aufbäumen von Norcklid, ein Schuss, der nicht einmal annähernd traf, und dann überwältigte der Rest der Mannschaft das Meuterer-Trio und befreite Master John. 

Der zählte nun auf, was er für Möglichkeiten hätte, die Aufständischen zu bestrafen. Straflos konnte er sie nicht davonkommen lassen. Aber seine Strafe war milde. Er setzte das Trio auf halbe Ration. Für Master John-Verhältnisse war das ein Streicheln.

Zumal er gleich im nächsten Abschnitt zeigt, aus was für einem Holz er geschnitzt ist.

Küstenwache

Da tuckerte ein Dampfschiff heran, dass sich als Küstenwache zu erkennen gab. Den Leser:innen wird nicht verraten, aus welchem Land die Küstenwache stammte. Ich hätte angenommen, dass sich das Schiff irgendwo im Nichts des Pazifik befinden würde. Weit und breit keine Küste, in der eine Küstenwache agieren könnte.

Die »Cobra« wurde aufgefordert, Flagge zu zeigen. Master John hatte darauf eine probate Antwort, die in etwa so ging: »Machen wir nicht sofort und wenn überhaupt, dann die Schwarze.« Hmm, hatten wir es hier mit Piraten zu tun. Die Anweisungen des Kapitäns lauteten: »Tut so, als würden wir das Schiff rammen. Und dann bringt sie alle um.« 

»Sie sind zehn Mann auf Deck!«, rief Master John. »Das macht nicht einmal einen pro Kopf für euch. Wartet mit dem
Schießen, bis ihr sie fast auf Pulvernähe habt. Zielt nicht zu hoch...«

Und so geschah es auch. Die Besatzung schoss auf die Küstenwächter. Fast alle waren sofort getroffen. Und der Rest wurde nach dem Entern gemeuchelt. Geschont wurde niemand, und wie Freibeuter es so halten, wurde am Ende das Schiff geplündert und versenkt.

Mit frischen Vorräten eingedeckt machte sich die »Cobra« davon und die Stimmung wurde gleich viel besser. Na ja, das war jetzt als Scherz gemeint. Wie schon zuvor geschildert, gab es drei Fraktionen. Aber die der Seeleute stand jetzt umso fester hinter ihrem Kapitän.

Was es über James zu erzählen gab, haben wir immer noch nicht erfahren. Dafür wird exakter ausgeführt, wie sich Little Root gegenüber seinem Schützling verhielt.

Was Moses anging, so war er das Eigentum des Negers, sein persönlicher Besitz.
Und Little Root hegte durchaus eine gewisse Zuneigung für ihn.
Aber eine Zuneigung ganz besonderer Art.
Er liebte ihn etwa so, wie er einen Hund oder Papagei geliebt hätte, der ihm gehörte.
Es war schließlich sein »Ding«! Er allein hatte Anrecht auf das Kind. Er allein befehligte es.

Das ist eine schräge, herabsetzende Schilderung. In diesem Kapitel sollte sie jedoch nicht die Krönung des Problematischen sein. Da ging noch was.

Der Sturm

An Bord gab es ein Problem. Der Wind hatte eine Pause eingelegt und man musste den mickrigen Motor einsetzen, um vorwärtszukommen. Da der Besatzung nichts erspart bleiben konnte, brach die Antriebswelle. Master John untersuchte den Schaden ausführlich, schließlich musste er Sabotage ausschließen, aber es war nichts zu machen: Das Problem beruhte auf Materialermüdung.

Die Flaute dauerte ihm irgendwann zu lang und so befahl er, dass gerudert werden musste. Das Murren unter der Besatzung war ihm gewiss, zumal auch das Trio mit ran musste. Reine Schikane natürlich, gab es jüngere in der Mannschaft. Außerdem brachte es kaum etwas, da man nicht vorankam.

Das sollte sich ändern. Ein Sturm zog auf und der Kapitän erfasst schnell, dass das kein Kinderspiel wurde. Die Segel wurden eingeholt, die Mannschaft sicherte sich an Deck und Little Root sorgte dafür, dass der kleine Mose festgeschnallt war. 

Dem Schiff tat der Sturm nicht gut. Der Hauptmast brach. War es Glück, war es Unglück – man befand sich in der Nähe einer Insel, allerdings auch von Klippen. Im letzten Moment entschied Master John, dass es Zeit wäre, die Boote zu Wasser zu lassen. Das Erste verschwand und so musste sich die gesamte Besatzung in eines zwängen. 

Aber einer fehlte: Moses.

Jean sprang ins Wasser und »enterte« nochmals das Boot. Den Rest kümmerte es nicht. 

»Der Narr!«, knurrte Master John zwischen den Zähnen. »Dabei brauchen wir ihn gar nicht. Eher lästig als nützlich, dieser Sohn des Einarmigen!«

So musste Jean allein dafür sorgen, dass der Junge gerettet wird. Die Anstrengung des Enterns war so groß, dass sie zwar wieder an Bord landete, aber dort unter der Erschöpfung zusammenbrach.

Jean war es nicht, der sterben musste, das war ein Besatzungsmitglied, das in bester Raumschiff Enterprise-Manier keinen Namen hatte.

Als er wieder aufwachte, war der Sturm vorbei und das Schiff hatte sich nicht weiter von der Insel entfernt. Von Master John und seinen Kumpels war nichts zu sehen, weil das die »Cobra« auf die andere Seite der Insel getrieben war. Jean sicherte das Schiff, kümmerte sich um Moses und anschließend begaben sich beide an Land.

Wir dürfen uns an der Stelle freuen, dass echt eine dramatische Wendung gibt. Ausgelöst wird sie durch eine Beobachtung Moses:

»Sprich sanft mit mir, wie du vorhin mit mir gesprochen hast, als ich nach meiner Mama rief. Denn du warst es doch, der mir geantwortet hat, nicht wahr?... Und ich glaubte, Mama zu hören.«
Jean erhob sich.
»Wir müssen uns darum kümmern, einen Unterschlupf zu finden!«, sagte er mit bewusst trockener Stimme.
Doch auch der Junge erhob sich, nicht ohne Mühe, und ergriff seine Hand.
»Du hast zarte Hände!«, murmelte er. »Ja, du hast ebenso zarte Hände wie Mama... Hände einer...«
»Still!«

Hätte ich mir denken können, habe ich aber nicht. Aber warum sollte nicht auch hier das klassische Motiv der Piratenbraut auftauchen, die noch eine Rechnung offen hat? Moses wird dazu vergattert, nicht zu verraten, dass es sich bei Jean um eine Frau handelt.

Wie lange wird er das durchhalten? Ich bin gespannt.

Der echt problematische Teil

Um das Folgende zu verstehen, muss man wissen, dass manche Inseln des Pazifik von Schwarzen bewohnt werden, die völlig primitiv geblieben sind – weit primitiver beispielsweise als die meisten afrikanischen Stämme.
Körperlich gleichen sie den Hottentotten, von denen sie offenbar abstammen und deren Hässlichkeit sie geerbt haben.
Nichts Ebenmäßiges oder Edles liegt in ihren Zügen.
Außerdem sind sie ängstlich, wild und von äußerster Leichtgläubigkeit.
Ihre Vorstellungen von den Weißen sind schlicht. Da die Inseln Polynesiens lange Zeit das Reservoir waren, aus dem die Sklavenhändler ganze Schiffsladungen von Sklaven holten, betrachten die Einwohner alle Europäer als böse Götter, die in großen Schiffen erscheinen und alle Schwarzen zusammenpferchen, derer sie habhaft werden können.
So hat die Ankunft irgendeines Dampfers in der Reede zur Folge, dass die Bevölkerung in den Busch flieht, der so undurchdringlich ist, dass nur die Schwarzen sich hineinwagen können.
Außerdem sichern sie ihre Flucht durch allerlei Fallen ab, besonders indem sie auf den Wegen, in den Büschen, zwischen den Steinen vergiftete Dornen aufstellen, die jeden töten, der sie berührt.
Dies allein würde noch nicht genügen, um den vielschichtigen Charakter dieser Schwarzen zu erklären, die die letzten Kannibalen der Welt sind.
Sie verzehren sich nämlich untereinander, und dieser grauenhafte Brauch wird von den Zauberern geheiligt, die beispielsweise verfügen, dass ein bestimmtes Mädchen des Stammes geopfert werden muss.
Von diesem Augenblick an wird sie einige Wochen lang reichlich genährt. Das Opfer fügt sich, denn es weiß, dass selbst bei einer geglückten Flucht ein Fluch auf ihm liegt.
Ein großes Fest wird veranstaltet, und das ganze Dorf versammelt sich um diejenige, die bald die Kosten des Gastmahls bestreiten wird. Auch ihre Verwandten nehmen teil, denn es ist eine große Ehre für sie, ihr Kind auf solche Weise verspeist zu sehen.

Hier weiß man überhaupt nicht, wo man zuerst anfangen soll. Vielleicht bei dem, was wahr ist?

Verschiedene Völker setzten Giftpfeile und Fallen ein, um sich zu verteidigen. An diesem Aspekt lässt sich genauso wenig rütteln wie an der Tatsache, dass verschiedene Inseln von Sklavenhändlern heimgesucht wurden, um die Menschen für Zwangsarbeit zu verschleppen. Wenn die Bewohner in der Region gewisse Befürchtungen hegten, dann zu recht. Was daran leichtgläubig sein soll, ist mir rätselhaft. 

Der beschriebene Kannibalismus kam in einigen polynesischen Kulturen vor. Allerdings wurde dieser in religiösen Kontexten praktiziert (beispielsweise als Ahnenverehrung oder Kriegsritual) und es war kein schlichtes »jetzt essen wir mal den Kollegen auf«. Diese Darstellung ist grotesk vereinfachend.

Hinzu kommt, dass die Einschätzung, dass es sich um die letzten Kannibalen handele, in mehrfacher Hinsicht falsch ist. Zum einen wurde dieser auch in Papua-Neuguinea, im Amazonasgebiet und in Zentralafrika praktiziert – und das teilweise weit in das 20. Jahrhundert hinein. Im Pazifik dagegen war er der Ritus schon längere Zeit erloschen oder wurde nur sehr selten ausgeführt.

Abgesehen davon, dass es in der geografischen und zeitlichen Dimension Fehler gibt, wird den Menschen mit dieser Zuschreibung eine niedrigere Wertigkeit verpasst.

Den Leser:innen wird mitgegeben, dass es sich um Polynesier handelt. Aber diese sind phänotypisch keine »Schwarzen«. So gesehen ist eine »Hottentotten«-Abstammung sehr weit hergeholt. Heute wissen wir, dass es keine nähere genetische Beziehung zwischen den Khoikhoi, die in Namibia und Südafrika leben, und den Polynesiern gibt. 

Letztlich kann der Stelle schon einmal festgehalten werden, dass Simenon hier verschiedenste Völker und Kulturen miteinander mixt, sich weder um genaue geografische und ethnografische Aspekte kümmert und die (damals wohl erwarteten kolonialistischen) Klischees bedient.

Der Polynesier, der kein Schwarzer war, nannte Jean und Moses seinen Namen – Toubou – und machte sich zum Untertan. Jetzt ist die Besatzung auf der Insel gelandet und der zweite Teil des Romans beginnt. Mal schauen, was uns da noch erwartet.