Lüttich – Place des Marché

Copy-Shop in Lüttich?


Maigret hatte einen Brief in sein Lütticher Hotel bekommen. Der sehr geehrte Herr Kommissar, so stand es in dem Schreiben, möge sich doch bitte in dem Café de la Bourse hinter dem Théâtre Royal einfinden. Sehr interessante Neuigkeiten zu dem Fall könnten überbracht werden, hieß es dort. Für Maigret war das berufsbedingt spannend. Und wir finden noch ganz andere Aspekte ...

»[...], wenn wir uns heute Abend gegen elf Uhr im Café de la Bourse hinter dem Théâtre Royal treffen könnten.«

Hantiert man mit Stadt- und Landkarten, sind Bezeichnungen wie »rechts davon« oder »hinter« wenig hilfreich. Auch wenn ich selbst, gerade in Bezug auf das Theater, diese Begrifflichkeit verwendet habe – Ironie der Geschichte.

Wer immer den Brief verfasste, wusste, dass Maigret sich in dem Bahnhofshotel einquartiert hatte. Aus der Richtung Bahnhof/Hotel kommend befand sich das »Café de la Bourse« hinter dem Theater, denn er musste an dem Gebäude erst vorbei. Wo genau das Café gewesen war, das verriet Simenon nicht.

Vom Bahnhof bis zum Theater braucht man etwa dreißig Minuten, sagt zumindest ein Routenplaner. Erstaunlicherweise war Maigret innerhalb von 25 Minuten viel weiter – er betrat den Ort vor der gewünschten Zeit. Nicht schlecht für einen Ortsfremden.

Technik I

In dem Science-Fiction-Klassiker »Blade Runner« können wir uns an dieser wunderbare Szene erfreuen, in der Rick Deckard ein Foto untersucht. Der Ermittler gibt in dem Film einem Gerät Anweisungen wie »Fortyfive left«, um sich innerhalb eines digitalen Bildes zu bewegen, und ist damit vielleicht die Quelle der Hoffnung so vieler späterer Krimi-Produktionen, dass Leute beliebig in Bild-Material hineinzuzoomen können – ohne Qualitätsverluste, das versteht sich, dafür aber mit riesigem Erkenntnisgewinn. In den Nachkömmlingen wurde dieser Prozess selten von ähnlich grenzgenialen Soundeffekten begleitet, nicht zu vergessen die sphärische Musik von Vangelis.

Ich hatte ein seltenes Bild von dem Lütticher Marktplatz gefunden, welcher aus der Perspektive von Maigrets Ankunft hinter dem Theater lag. Die meisten historischen Bilder konzentrieren sich auf das Rathaus oder auf die gegenüberliegende Seite des Marktplatzes, aber auf diesem war ein Café zu sehen und ich meinte, das Wort »Bourse« entdeckt zu haben.

Um Gewissheit zu erlangen, vergrößerte ich das Bild etwas. Statt Gewissheit bekam ich Pixel:

Die technische Ausstattung in der heimischen Maigret-Simenon-Ecke hier ist nicht schlecht. Ich versuchte eine Vergrößerung mit einem  Fotobearbeitungsprogramm, das tolle KI-Resultate versprach. Die Ergebnisse sind schon ziemlich erstaunlich:

Wer sich an den »Blade Runner« erinnert fühlt – ja, wir sind auf diesem Weg. Die Behauptung, dass dies verlustfrei passiere, wäre im Moment noch sehr gewagt. Klar lesbar und ein eindeutiger Beweis kann damit nicht produziert werden: »Café« ist besser zu lesen und auch ein »LA« ist gut zu erkennen. Mit den anderen beiden Worten ist's aber nicht so weit her. Besser erkennbar als vorher ist es jedoch, das kann man nicht abstreiten.

Glücksfall würde ich es nicht nennen, aber aufgrund dieser Unklarheiten hatte ich mir eine Original des Fotos besorgt und dieses in hoher Auflösung eingelesen. Das Ergebnis dieser Prozedur:

Die Chance, sich bei dem Fotografen über die für das »E« ungünstige Aufnahmeposition zu beschweren, gibt es nicht mehr. Immerhin ist in dieser Aufnahme gut zu sehen, dass es sich wohl um ein »Café de la Bourse« handelt. 

Eine exakte Angabe, aus welchem Jahr die Abbildung stammt, gibt es nicht. Die Freude hält sich auch deshalb in Grenzen, weil es in Lüttich offenbar an einem anderen Ort und zwar ganz in der Nähe ein Café existierte, das den gleichen Namen trug. Und die Existenz kann durch einen Briefumschlag belegt werden:

Datiert ist dieser auf das Jahr 1913. Das Schöne für Maigret wäre gewesen, er hätte dann gar nicht so weit gehen müssen und etwa drei Minuten gespart hätte – vom Marktplatz zum Place Saint-Lambert war und ist es ein Katzensprung.

Die Existenz von zwei Cafés mit dem gleichen Namen in unmittelbarer Umgebung lässt sich eigentlich ausschließen.

Wobei … da wäre ja noch das »Grand Café de la Bourse«, welches auch in Lüttich existiert haben soll. Weitere Information, wo und wann das Bild entstanden sein könnte, haben sich nicht ergeben. Die Existenz soll an der Stelle auch nur zu Protokoll gegeben werden. Außerdem soll nicht die Gelegenheit verpasst werden, zu das Bild von dem Café zu zeigen, weil es amüsant ist, wie die Leute damals vor dem Kaffeehaus posierten.

 

Technik II

Mit dem Thema waren wir aber bei einem Inhalt des Briefes gewesen. Interessant ist jedoch in der aktuellen Kampa-/Atlantik-Ausgabe auch die Beschreibung des Briefes im Absatz zuvor. In dem heißt es:

Die zweite Nachricht war ein Brief, der von einem Boten abgegeben worden war, maschinengeschrieben, auf Kopierpapier.

Geht es nur mir so oder geht die Assoziation automatisch zu einem Kopiergerät? Das Thema hatten wir anderer Stelle schon mal. War es in dem Roman, in dem der Begriff »fotokopieren« verwendet wurde (»Les caves du Majestic«), unwahrscheinlich, so ist es hier ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Kopiergerät gab es zu der Zeit definitiv nicht. Warum also mit Kopierpapier herumhantieren?

Ein Blick in die Diogenes-Ausgabe hilft weiter, wenn man die Originalausgabe nicht zur Hand hat. Dort heißt es:

Er war mit der Maschine geschrieben, auf neutralem Papier von der Sorte, wie es in Büros für Durchschläge benutzt wird, [...]

Wollte man früher ein und dasselbe Schreiben, nicht mehrmals abtippen, so bediente man sich Durchschlagpapier. Das funktionierte auch mit mehreren Lagen mehr oder weniger gut. Vermutlich werden alle nach 1980 Geborenen überhaupt nichts mit diesem Begriff anfangen können.

Trotzdem ist die Formulierung rund um die »Durchschläge« besser. Es handelt sich eine Technik, mit der Kopien erzeugt wurde. Heute würden wir mit »Kopierpapier« aber Papier für Drucker und Kopierer in Zusammenhang bringen, also auch mit der Technik, und nicht mit einer Schreibmaschine.

Ja, es kann sein, dass Nachgeborene der Schreibmaschinen-Ära – so sie über den Sachverhalt stolpern – sich informieren müssen. Aber zumindest bekommen die Generation nicht den Eindruck, dass es in den 1930er-Jahren schon Kopiermaschinen gegeben hätte.