»Hôtel d'Angleterre« und »Bécasse«

Hinter der Oper


Dies wäre die Gelegenheit, ein Loblied auf meine Volksbank zu singen – aber wen würde das interessieren? Diejenigen, die sich bei Google über die Bank auslassen, die sich unmittelbar hinter der Königlichen Oper von Lüttich befindet, klingen sauer und bezeichnen den Service des Instituts als kafkaesk. Zu Simenons Zeiten war dort übrigens kein Geldinstitut beherbergt.

Der damalige König von Belgien, Guillaume d'Orange, überließ den Bürgern von Lüttich ein Stückchen Land in ihrer Stadt. Eine Bedingung hatte er: Auf dem Gelände sollte ein Theater errichtet werden.

Nach der Schenkung 1816 brauchte es zwei Jahre, bis der Grundstein gelegt werden konnte, und dann weitere zwei Jahre, bis die Lütticher ihr Theater in einem neoklassizistischen Stil einweihen konnten. Vor dem Gebäude wurde eine Statue von dem Komponisten André Grétry installiert. In Lüttich geboren, gilt er als einer der wichtigsten Tonschöpfer Frankreichs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Von den siebzig Bühnenwerken, die er schuf, ist die Mehrzahl komödiantischer Art – er prägte die  Opéra-comique der Zeit, aber schrieb auch sogenannte große Opern. Für die Bürger von Lüttich gab es einigen Grund, auf den Musiker stolz zu sein. Als die Statue 1842 entstand, legten sie sein Herz in den Sockel derselben. Da Grétry schon 1813 starb, dürfte sein Zentralorgan nicht besonders frisch gewesen sei.

Knapp vierzig Jahre nach der Einweihung wurde das Gebäude des Architekten Auguste Dukers von seinem Kollegen Julien-Étienne Rémont neu gestaltet: Dabei wurde das Gebäude um einige Meter verlängert und der Theatersaal präsentierte sich im Stil des Second Empires. War die Oper ausverkauft, konnten sich 1.500 Menschen daran erfreuen.

Während des Ersten Weltkrieges wurde die Bühne von den Deutschen als Stall und Schlafsaal für seine Soldaten verwendet. Die Lütticher hatten nach dem Abzug ihrer Feinde einiges zu tun, um die Bestimmung wiederherzustellen – 1919 konnte in dem Opernhaus wieder gespielt werden. Elf Jahre später sollte die Internationale Ausstellung in der Stadt stattfinden, weshalb das Gebäude gestalterisch überarbeitet wurde. Der Zweite Weltkrieg konnte der Königlichen Oper nichts anhaben, es blieb verschont.

Das zuvor Geschilderte lässt an der historischen Aufnahme gut erkennen, mit Ausnahme der Herz-Geschichte. Jedoch interessiert uns aus der Perspektive Maigrets vielmehr das Gebäude, welches rechter Hand hinter der Königlichen Oper zu sehen ist. Dies steht in der 2, Rue des Dominicains.

Dass es eine Herberge ist, ist aus dem Blickwinkel nicht auszumachen – eine Beschriftung, die auffällig genug war, ist nicht wahrzunehmen. Ein Hotel gibt es auch linker Hand der Oper, dieses trägt seinen Namen auf dem Gebäude. Also üblich war Hotel-Werbung zu der Zeit durchaus.

Das große Hotel

Die Suche nach dem Gebäude hinter der Oper wurde durch einen Dialog in dem Roman getriggert, in dem Maigret meinte:

»Wir haben in einem Restaurant zu Abend gegessen, hinter dem Théâtre Royal.«
»In der Bécasse«, fiel Delvigne ein. »Dort isst man gut.«

Das Hotel gibt es nicht mehr und auch ein Restaurant mit dem Namen sucht man in Lüttich vergebens. Wer sich heute hinter die Oper begibt, wird mit Neubauten konfrontiert, von denen sich nicht zwingend behaupten lässt, dass sie schön wären. Die Stelle, an dem das Hotel steht, lässt sich anhand dieses Bildes festmachen:

Hilfreich aus der heutigen Recherche-Perspektive ist, dass sich das Hotel-Management irgendwann entschlossen hatte, seinen Gästen mit einem großen Schild Orientierung zu geben. Zudem schimmert an der rechten Seite das Collégiale Saint-Jean l'Évangéliste durch. Damit ist klar, dass es sich um das Eckgebäude handeln musste, welches gegenwärtig die Bank mit dem schlechten Service (laut Google-Bewertungen) beherbergt.

In dem Hotel fanden die Gäste ein schönes (temporäres) Zuhause: Auf Werbematerial, wozu ich auch einmal Ansichtskarten vom Haus zähle, wurde fließendes warmes und kaltes Wasser sowie ein Fahrstuhl angepriesen. Das Interieur war großzügig, und auch die Zimmer machten den Eindruck – wobei, als Prospekte werden auch heute nicht Bilder von Einzelzimmern im Dachgeschoss verteilt. Eigentlich wäre es die angemessene Unterkunft für einen Mann wie Éphraïm Graphopoulos gewesen, der vermögend war. Aber wie Maigret und Delvigne feststellten, verließ sich der Grieche auf die Empfehlungen, die ihm gegeben wurden. Am Bahnhof empfahl man ihm das »Hôtel Moderne« und in diesem wurde ihm das Restaurant ans Herz gelegt, in dem er mit Maigret speiste.

Im Hôtel d'Angleterre

Dieses Bild zeigt, dass man vor dem Restaurant, welches von Delvigne angesprochen wurde, damals gut sitzen konnte. Schön für die Gäste, aber die Passanten mussten wohl auf der Straße gehen, um nicht zwischen den Tischen herumzutanzen zu müssen. Das wäre heutzutage übrigens nicht anders, wenn ein Restaurant-Besitzer auf die Idee käme, Tische vor ein Restaurant zu stellen.

Nierchen

Das Hotel hatte – wie zuvor schon auf den Bildern zu sehen ist – einen Salle à manger, der feiner aussah als das Interieur des »Bécasse«. Dies machte einen rustikalen Eindruck.

Maigret vergaß aber einen Moment den Fall, als er Delvignes Bemerkung, man könne dort gut essen, bestätigte:

»Vor allem die Kalbsnieren nach Lütticher Art sind vorzüglich.«

Simenon schrieb »Surtout« an der Stelle und damit bleibt wenig Interpretationsspielraum für die Übersetzung: »Vor allem« trifft die Formulierung Maigrets korrekt.

Aber woher wusste Maigret das? Hatte er einen so guten Appetit, dass er verschiedene Gerichte in dem Restaurant ausprobierte? Oder war Maigret schon zuvor in der Stadt gewesen und hatte die Gastwirtschaft ausprobiert? In seinem zweiten Lüttich-Fall um den Gehängten von Saint-Pholien gibt es keine Andeutungen, dass der Kommissar die Gaststätte besucht hätte oder sich in der Nähe der Oper aufgehalten hätte. Verraten wird den Leser:innen nicht, wie er zu der starken Meinung kam.

Spannend ist aber auch die Frage, was es mit den Lütticher Nierchen auf sich hat. Beim Studium der verschiedenen Gerichte, wie man Nieren zubereitet, fiel auf, dass es auf die Art der Verfeinerung ankommt. Auf das Aroma von Alkohol wollte keines der Rezepte verzichten.

  • Sahne + Calvados
  • Crème fraîche + Weinbrand
  • süße Sahne + Wein
  • Olivenöl + trockener Sherry

Was nun das Besondere an der Zubereitung der Maas-Stadt ist? Glaubt man dem Rezept einer französischen Frauen-Zeitschrift, so liegt das Geheimnis am Genever (also einem Wacholderschnaps), den Wacholderbeeren und der Butter.

Aber so einfach ist es natürlich nicht! Wird ein Meister der Lütticher Küche gefragt, bekommen Interessierte neben der nützlichen Info, dass das Garen von Nieren eine heikle Angelegenheit ist, mit auf den Weg, dass es Peket sein muss, der das Gericht verfeinert. Also nicht irgendein dahergelaufener Wacholderschnaps, sondern einer, der aus der Region stammt.

Auf späteren Bildern des Hotels ist der Name des Restaurants übrigens verschwunden.