Über das Nichtgehenkönnen

Von einem, der sein Glück (oder Unglück) in einer Hafenstadt in Kolumbien fand – der sagte, dass er gehen würde, und trotzdem blieb.

Die Umgebung von Buenaventura muss fantastisch sein. Es gibt dichte Regenwälder, Mangroven, Flüsse und zudem einsame Strände, die zum Entspannen einladen. In der Nähe existiert der Nationalpark Uramba Bahía Málaga, der mit all den Attraktionen lockt und von dem aus man zwischen Juli und November die Buckelwale beobachten kann, die zur Kalbung in die Bucht kommen. Darüber hinaus kann man sich in der Umgebung der Stadt an Wasserfällen wie La Sierpe erfreuen.

Auf der anderen Seite gehört Buenaventura zu den Orten Kolumbiens, die stark von Gewalt geprägt sind. Geprägt ist die Stadt von Drogenhandel, bewaffneten Banden, wiederkehrenden Gewaltwellen. So dürfte sich das Tourismusmanagement der Stadt sehr schwierig gestalten. Worauf sollten Kampagnen abzielen, wenn die Besucher nicht sicher sein können, dass sie sie wieder lebend verlassen?

Simenon als Heilbringer für den Stadt-Tourismus?

Eine Möglichkeit der Tourismus-Manager bestände darin, dass sie auf die Verbundenheit einer von Simenons Figuren zu der Stadt verweisen. Monsieur Labro, der im Mittelpunkt dieser Erzählung steht, hat das Problem, dass er Buenaventura nicht verlassen kann. Niemand hindert ihn daran, außer er sich selbst. Einmal im Monat kommt er zum Hafen, begibt sich zu einem Hotel mit angeschlossenem Restaurant und wartet darauf, dass das französische Schiff einläuft. Dazu genehmigt er sich einen Whisky nach dem anderem. Da Ausfallerscheinungen nicht geschildert werden, kann man davon ausgehen, dass Labro nicht nur an dem einen Tag im Monat Hochprozentiges such sich nimmt. Schon vor der Ankunft verkündet er ununterbrochen, dass er an diesem Tag zurück nach Frankreich kehren würde. Labro weiß auch, wohin: Tours werde es werden.

So lässt er sich berichten, wie lange die Hafenarbeiter brauchen werden, bis das Schiff beladen ist und er beteuert mit fester Stimme, dass er sich eher an den Füßen aufhängen lassen würde, als am Ende des Tages nicht auf See zu sein. Nur ist keiner da, der den sehr fetten Mann aufhängen wollte, denn schon im Hotel ist kaum etwas los.

Die Leser:innen erfahren nicht, was Monsieur Labro in der kolumbianischen Hafenstadt treibt. Hat er Geld, hat er ein Geschäft, vielleicht sogar Familie. Das Leben des Mannes bleibt ein Geheimnis.

Werbung für den Ort machen weder der dringend wegwollende Labro, der es nie schaffen wird, wie auch die Schilderungen von Simenon. Die Umgebung wird ausgesprochen unwirtlich geschildert. Scheinbar gab es damals schon sehr zwielichtige Personen, wie den Hotelbesitzer Pedro.

Der spielte in dem Restaurant an einem Automaten und sollte am Ende unerwartet in den Mittelpunkt der Geschichte stehen. Hierzu sei nur so viel verraten: Auch mit diesem Typ hätte das Tourismusmarketing der Stadt erhebliche Schwierigkeiten. Doch den Buenaventura-Marketing-Experten würde nicht nur der Inhalt schwer im Magen liegen, problematischer sind sprachliche und inhaltliche Vorurteile, die einen kritischen Blick erfordern.

Abstand gewinnen

Vermutlich wird den Marketing-Managern die Geschichte nicht gefallen. Sie weist eine Reihe von problematischen Stellen auf. Weder als Betroffener noch als Verleger würde man sie heute reproduzieren wollen.*

Die Wortwahl in der Übersetzung – die knapp fünfunddreißig Jahre alt ist – würde heute wahrscheinlich angepasst werden, aber das Setting mit den geschilderten kolonialen Klischees bleibt. Selbst wenn man offensichtliche Formulierungen entfernen würde, blieben störende Passagen. Ein Beispiel dafür ist die Schilderung Pedros. 

Der Spieler war auch fett, aber es war ein anderes Fett als das des Franzosen, ein flüssigeres, öligeres, aristokratisches Fett, das echte Fett des Südländers, mit einem blaugelben Schimmer.

Wenn man über das Offensichtliche erst einmal gestolpert ist, fallen einem andere Klischees ebenfalls auf – beispielsweise die Anspielung auf das südamerikanische Temperament, in dem das Verhalten Pedros als obsessiv dargestellt wird:

Pedro spielte immer noch, hartnäckig, mit bösem Blick.

Bemerkenswert ist zudem, dass die einzelnen Handelnden Europäer sind. Mögen den anderen Wortmeldungen zugeschrieben werden, als Dialoge oder Konversation lassen sich diese Snippets nicht bezeichnen.

Ein Spezialfall ist die Figur des Barmanns namens Joe. In dem Kontext der Geschichte lassen sich in der Schilderung ebenso rassistische und koloniale Stereotype erkennen. Ambivalent bin ich deshalb, da ich annehme, dass die Geschichte an jeden anderen Ort der Welt spielen könnte – Le Havre mal als Beispiel für eine ebenfalls touristisch nicht erstklassige Location. Gäbe in einer französischen Bar ein Kellner namens Joseph – er hätte nicht mehr Text, mehr Tiefe zugeschrieben bekommen als Joe in der Erzählung. Während Labro ein Amerikaner namens Smith wäre, der es nicht schafft, sich von Frankreich loszueisen.

Richtig ist jedoch, dass der Kontext nicht außer acht gelassen werden kann. Die Story ist schließlich da und somit die Probleme, die wir heute mit dem Text haben.

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Trotzdem lesen?

Für das Tourismus-Marketing von Buenaventura ist die Geschichte nicht geeignet. Diese Idee kann getrost beiseite gelegt werden.

Die Geschichte, die Simenon erzählt, wird deshalb interessant, da man zum Ende das Gefühl hat, dass man auf den falschen Punkt geschaut hat. Monsieur Labro ist eine Ablenkung.

Beim Lesen gilt es, achtsam zu sein und die problematischen Stellen nicht einfach hinzunehmen. Die Leser:innen sollten sich bewusst sein, dass Simenon so geschrieben hat, wie es zu der Zeit üblich war. Er wuchs mit der Sprache auf. Die Story, kann man annehmen, schrieb er aus seiner Erinnerungen seiner Reise nach dem Zweiten Weltkrieg. Die große Emanzipation der kolonial unterdrückten Völker hatte zudem Zeitpunkt noch nicht begonnen. Abgesehen davon ist es fraglich, ob man sich von beigebrachten, etablierten Denkmustern in kurzer Zeit trennen kann.

So bekommt man ein interessantes Spiegelbild der damaligen Zeit, geschrieben aus der Perspektive eines Schriftstellers, der dort gewesen ist, die Atmosphäre aufgesaugt hat und mit seinen europäischen Maßstäben wiedergibt.

* Gut, es gibt Verleger, die das tun würden. Aber die haben dann halt kein Problem mit Rassismus.