Über die Story

Maigret war wütend. Erstens, weil seine erste Reaktion, wenn er sich hatte erweichen lassen, stets Wut auf sich selbst war. Zweitens, weil er es – ohne jeden Grund – vorgezogen hatte, seiner Frau nichts von dem Brief zu erzählen, und sich jetzt ein wenig schämte, einen Vorwand erfunden zu haben, um nach Paris zu fahren. Drittens war die Hast, mit der er zu diesem Rendezvous eilte, der Beweis dafür, dass er nicht so glücklich in seinem Garten, wie er zu sein vorgab, und aß er sich für den erstbesten ungeklärten Fall wie ein Anfänger begeisterte.

Der bewusste Brief stammte von einer Mademoiselle Berthe, die vorgab in eine Geschichte verwickelt zu sein, in der es um Leben und Tod ging (auch die berühmte Félicie aus »Maigret und das Dienstmädchen« gab immer vor, dass es um Leben und Tod ginge, aber das nur so nebenbei), und nun ihn angeschrieben hätte, dessen Adresse sie mit Mühe und Not herausbekommen habe, wobei ihr Beziehungen zur Polizei geholfen: Ihr Onkel wäre an Maigrets Seite kurz vor der Pensionierung des Kommissars gefallen. Das kann nach Maigrets Erinnerungen nur Inspektor Lucas gewesen sein.

Das wiederum gibt mir Gelegenheit mal wieder ein bisschen abzuschweifen und zu vermerken, dass mir noch keine Erzählung untergekommen ist, in der Lucas an der Seite von Maigret gefallen ist. Zumal er in der Erzählung »Maigret und sein Neffe«, in der Maigret schon im Ruhestand ist, mit argen Loyalitätskonflikten zu kämpfen hat, ergo lebt. Nun denn, wir nehmen es für diese Erzählung mit tiefer Trauer hin und erfreuen uns, wenn Lucas in einer der nächsten Erzählungen wieder aufersteht, wie es ihm andere Kollegen ja schon gleichtaten.

Nun, Mademoiselle Berthe gibt zu, dass er nicht ihr Onkel, sondern nur ihr Großonkel gewesen war, was Maigret wieder beruhigt, da er sich nicht erinnern konnte, dass Lucas jemals von einer Nichte geredet hatte.

Bewusste Mademoiselle berichtet nun in einem Café von ihrem Liebhaber Albert, der ein Kind aus reicher Familie war, aber von der selben zur Arbeit gezwungen wurde. Sie hatte ihm im Urlaub in Saint-Malo kennengelernt, wo er Autos verkaufte oder es zumindest versuchte. Er kam mit ihr nach Paris, wo er vergeblich eine Arbeit suchte. So kam es, dass er in schlechte Kreise abrutschte und an einem Überfall mit Todesfolge beteiligt war. Nun schrieb er Briefe aus der Provinz, dass er auf dem Sprung nach England wäre und auf sie warten würde. Käme sie nicht, dann würde er dafür sorgen, dass sie niemals mehr irgendwo hin käme.

Was für eine Liebe! Maigret setzt sich mit seinem Neffen Jérôme Lacroix in Verbindung, der bei der Pariser Kriminalpolizei arbeitete – Maigret hatte ihn dort »untergebracht« – und beorderte ihn die nahegelegene »Sansi-Bar«. Dort lässt er sich die Umstände aus Sicht der Kriminalpolizei berichten.

Verschiedene Sachen bringen Maigret dann aber doch etwas durcheinander: Die Mademoiselle macht nicht immer den Eindruck, bedroht zu werden. Sie spricht den Namen »Albert« auch nicht in Furcht aus, sondern in liebevollem Ton und sie bekommt Briefe mit Briefmarken, die mit Löchern versehen sind – Löcher, die die Handschrift Maigrets tragen ...