Bahnhofsrestaurant

Zipfel-Frage


Die in mir schlummernde Neugierde und Pedanterie erwachte, als ich im dritten Absatz von »Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien« las, dass Neuschanz im nördlichsten Zipfel Hollands liegen würde. Kann das sein? Gibt es da nicht auch Inseln. Meinereiner musste auf die Karte schauen und prüfen, wie die örtlichen Gegebenheiten einzuschätzen sind und ob Simenon mit dieser Aussage richtig lag.

Der Bahnhof von Neuschanz liegt nämlich im nördlichsten Zipfel Hollands, direkt an der deutschen Grenze.

Das war die Passage, über die ich stolperte, die ein Nachschauen erzwang. Wer selbst auf der Landkarte ein Bild machen möchte, kann mit dem Zeigefinger in der Nähe der Nordsee Emden suchen. Dann geht es mit selbigen runter zur Ems und die große Bucht, dann noch ein Stückchen weiter nach unten und man landet bei dem Grenzstädtchen Bad Nieuweschans (deutsch halt Bad Neuschanz). Der Grenzübergang zu Deutschland trägt den gleichen Namen wie der Ort, zumindest auf niederländischer Seite.

Bad Nieuweschans liegt in einer ausgeprägten Ausbuchtung, die einer sehr spitzen Comic-Nase ähnelt. Damit könnte der Ort der nordöstlichstes der Niederlande sein, bis zum nördlichen hat es noch ein paar Kilometer. 

Nun lässt sich der Begriff »Zipfel« beim besten Willen nicht als exakte Maßeinheit betrachten. Die Bedeutung und Größe liegen im Auge des Betrachters. In welche Richtung dachte Simenon – an die Ausbuchtung oder an die Region? Nehmen die Betrachter:innen die Region um Groningen samt Eemshaven, Delfzijl und halt auch Bad Nieuweschans als diesen Zipfel – wie es vielleicht ein Franzose oder Deutscher tut – dann passt die Bezeichnung. Ein Holländer täte sich damit schwerer, denn die Größe der Region Groningen umfasst einen erklecklichen Teil des Staatsgebietes.

Simenon schilderte zu Beginn des Kapitels, dass sie sich in dem Ort in dem Wartesaal des kleinen Bahnhofs befanden. In Brüssel fiel Maigret ein Mann auf, der sich verdächtig benahm, und er verfolgte diesen. Er besorgte sich ein Koffer, der dem des Verdächtigen glich, und just an dem Bahnhof gelang es dem Kommissar sein Gepäckstück mit dem des Fremden zu tauschen.

Die Städte in Ostfriesland wie Leer und Emden sind ganz reizend und auch der Landschaft lässt sich einiges abgewinnen. Wer nun dort ist, könnte als Maigret-Liebhaber auf den Trichter kommen, einen kurzen Ausflug nach Bad Nieuweschans zu wagen, um den Ort des Verbrechens von Kommissar Maigret (was nicht meine Einschätzung ist, sondern eine von Simenon, die er als Kapitelüberschrift nutzte), zu besichtigen. 

Dafür reicht jedoch eine kleine Exkursion mit Google Streetview. Denn bei der virtuellen Besichtigung des Haltes wird man schnell sehen, dass dies holländisch freundlich ist, aber die Station nur noch aus zwei Bahnsteigen und dem obligatorischen Fahrradständer besteht. Spuren von dem, was in dem Roman geschildert wird, findet der Interessierte dort nicht mehr.

Image Lightbox

Da muss man schon zurückschauen, um Spuren zu finden. Damals wie heute liegt die Station am Stadtrand. Die alte Karte von 1933, wie sie nebenstehend zu sehen ist, zeigt, dass in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs sich eine Fabrik befand. In dem Roman ist davon die Rede, dass sich deutsche Arbeiter in Unternehmen verdingt hatten, da die Löhne besser gewesen sind. Von der Fabrik ist heutzutage auch nichts mehr zu sehen. Dort ist ein Wäldchen auf den Satellitenfotos zu erkennen. Auf der Karte ist nicht auszumachen, wie groß dieser Bahnhof gewesen ist.

Heute hat der Zughalt zwei Gleise, aber gleich hinter dem Bahnhof führt nur ein Gleis weiter in Richtung Deutschland. Schaut der Interessierte in diese Fahrtrichtung, so erblickt er den alten Lok-Schuppen aus dem Jahr 1877. Vor diesem befand sich eine Drehscheibe für die Loks, die nur noch als leerer runder Platz zu erkennen ist. Das Gebäude gilt heute als Baudenkmal.

In den guten »alten Zeiten« war die Station also wesentlich größer. Dort stiegen schließlich nicht nur Passagiere ein und um. Die regionalen Züge aus den Niederlanden endeten in dem Ort, genauso die deutschen. Umsteigen war angesagt. Und damit rangieren. Alte Aufnahmen zeigen, dass der Bahnhof mehr als zwei Bahnsteige hatte und damit auch mehr Gleise als heute.

Sowohl die Kontrolle der Papiere und wie auch eine Durchsuchung des Gepäcks erfolgten durch den Zoll. Und die Beamten standen nicht den lieben ganzen Tag im feucht-kalten friesischen Wetter herum, sondern hatten ein Anrecht auf ein warmes Stübchen. Die Station, indem sich damals der Fremde und Maigret aufhielten, bot also nicht nur Toiletten, sondern auch das von Simenon geschilderte Bahnhofsbuffet.

Simenon schrieb über den Bahnhof:

Es ist ein unbedeutender Bahnhof, und Neuschanz kaum ein Dorf. Fernzüge verkehren dort keine, lediglich morgens und abends ein paar Bummelbahnen [...]

Er hätte den Halt mal heute sehen sollen.