Jeumont

Jeumont


Auf unseren Reisen nach Frankreich, wir sind durch die Anfahrt aus dem Norden aufgrund der Entfernung etwas gehandicapt, legen wir gern einen Zwischenstopp ein. Oft in Belgien. Dieses Mal habe ich mich von Georges Simenon und einer seiner Kurzgeschichten inspirieren lassen und wählte Jeumont. Nicht direkt den Ort, denn man hat ja gewisse Ansprüche.

Abgestiegen waren wir etwa zehn Kilometer entfernt, wo wir uns ein möbliertes Zimmer für zwei Nächte gemietet hatten. Wir erklärten der Wirtin auf Nachfrage, dass wir auf dem Weg nach Frankreich wären und es eine Zwischenstation wäre. Sie fragte, ob wir es etwas besichtigen wollten und ich meinte: »Jeumont, wir werden mal nach Jeumont fahren.« Die Fassungslosigkeit der Dame war greifbar. »Da gibt es nichts zu sehen!« meinte sie. »Ich weiß«, sagte ich, »wir fahren dahin, machen ein Foto und fahren weiter.« Sie brauchte ein wenig mehr Erklärung, um es zu verstehen. Wobei »verstehen« nicht das richtige Wort für eine solche Verrücktheit ist – aber sie wusste nun Bescheid.

Ich hatte sogar die Idee gehabt, mich maximal 51 Minuten in dem Ort aufzuhalten. Das wäre, schwante mir, aber keine Limitierung gewesen, die mich eingegrenzt und zur Eile gedrängt hätte. Vielmehr müsste ich schauen, wie ich die Zeit in dem Ort totschlage. Also strich es von der Liste und nahm mir vor: »Ein Foto. Und weiter gehts!«.

Auf dem Weg dahin lag aber noch eine kleine Zwischenstation. Was kein Drama ist, denn alle Orte lagen sehr nah beieinander.

Das fehlende »n«

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Bevor ich das erlebte schildere, kurz eine Schilderung, worum es in der Geschichte ging. Es gab einen Zug, der kam aus Berlin, und als Maigrets Neffe die Passkontrolle in Jeumont durchführte, entdeckte er die Leiche eines Geschäftsmannes. Verdächtig waren alle Insassen des Abteils – außer dem Toten selbst, denn Selbstmord war ausgeschlossen.

Es werden diverse Orte erwähnt. Interessant wird es kurz vor der belgisch-französischen Grenze. Der Zug kam …       

[...] schließlich um 1 Uhr 57 in Erquelines an.

In dem Ort hatte er zwanzig Minuten Aufenthalt und fuhr dann weiter nach Frankreich. Sie werden Simenon auf der belgischen Seite der Grenzformalitäten nie ein Denkmal bauen. Denn die Tatsache, dass in dem Ortsnamen ein »n« fehlte, kann man nicht dem deutschen Verlag oder der Übersetzerin in die Schuhe schieben. Der Meister selbst ließ es hier an Akkuratesse missen.

Mein Plan war gewesen, durch Erquelinnes nach Jeumont zu fahren. Aber wir kamen auf eine Umgehungsstraße und landeten so in Frankreich und somit in Jeumont. Wir sahen schon die Schienen der Bahnstrecke und mussten uns in einem Kreisverkehr entscheiden. Stadtmitte, so dachten wir uns, da würden wir den Bahnhof finden. Merkwürdigerweise war mit der »centre ville« offenbar das Zentrum von Erquelinnes gemeint – denn dort landeten wir.

Wir fanden einen für einen Sonntag-Morgen gut frequentierten Parkplatz. Da hätte eine Kirche sein können, was ich zuerst vermutet hatte, aber es war ein Tabak-Geschäft, zu dem die Leute strebten. Die Straße runter, wir wollten der Stadt eine Chance geben, fand sich dann der Bahnhof. Oder was von ihm übrig war. Die Tatsache, dass hier keine Grenze mehr wahr, hat dem Zughalt (und wahrscheinlich auch der Stadt) sehr zugesetzt. Es hat wohl ein Restaurant da gegeben, wo die Bahnhofswirtschaft früher gewesen ist. Wie der Rest des Bahnhofs machte es einen sehr geschlossenen Eindruck.

Auf Bahnsteigseite sah man noch das Schild des Halts, aber ob etwas hielt, vermag ich nicht zu sagen. Sollte man hier in Züge einsteigen können, dann wird es nicht sehr offensiv beworben.

Nachdem wir uns zum belebten Parkplatz zurückbegeben hatten, stiegen wir ins Auto und fuhren noch eine wenig in die Richtung, von der wir vermuteten, dass sie in ein Stadtzentrum – sprich zur Kirche – führen könnte. Wir sahen Schulen, einen Marktplatz und entdeckten eine Kirche, die einige Gottesdienstbesucher angelockt hatte: Nichts davon lud dazu ein, länger zu bleiben.

Also machten wir uns auf die Suche nach dem Zentrum von Jeumont. Ein gutes Gefühl hatten wir nach dem Kennenlernen der Partner-Gemeinde nicht.

Der andere Bahnhof

Der erste Ansatz war: Wir fahren zu dem Kreisverkehr zurück, der uns in die Erquelinnes-Stadtmitte gelockt hat, und wählen dann die andere Richtung. Gute Idee, nur falsch. Damit wurden wir über eine Einbahnstraße aus der Stadt herausgelockt. Also ging es wieder zurück … wir kamen schon noch auf die 51 Minuten Aufenthalt in der Stadt!

Wir mussten auf die andere Seite der Gleise und dabei half uns eine Unterführung, deren Ausschilderung nicht auf das Stadtzentrum von Jeumont verwies. Geschweige denn auf einen Bahnhof. Auch auf der anderen Seite müssen Suchende sehr aufmerksam sein, um Hinweise auf die Zugstation zu finden. Als wir dort waren, wurde viel gebaut. Die Straßen waren aufgerissen und die Verkehrsführung war geändert.

Das Zentrum hatten wir verlassen, so kam es mir zumindest vor, da trafen wir auf ein kleines Schild, welches den Weg zum Bahnhof wies.

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Dann steht man vor dem Bahnhofsgebäude und denkt: »Wow! Daraus haben sie ja was gemacht.« Das ganze Gegenteil von dem, was man in Erquelinnes vorgefunden hat. Nur einen Eingang gab es nicht. Ein Blick in das Innere offenbar auch, dass das Gebäude noch die Insignien eines Bahnhofs trägt, aber keiner mehr ist.

Jeumont ist keine besonders große Stadt und das Gebäude, über den der Reise- und Grenzverkehr abgewickelt wurde, ist für heutige Verhältnis schlicht überdimensioniert. Daraus nun ein Kulturzentrum zu machen, ist einfach nur vernünftig.

Geht man, vor dem Gebäude stehend, ein paar Schritte nach links, kommt man zu einem Nebengebäude – auch ganz im Stil der damaligen Bahnhofsarchitektur –, über den der Reisebetrieb heute abgewickelt wird – sauber und auf Effizienz getrimmt. Ein Schatten der großen Zeit des regen Grenzbetriebes, keine Frage. Ich will es nicht als Zeichen deuten, dass wir an diesem Vormittag sieben Leuten in den Bahnhof waren: Ein Reisender, wir unverdrossenen Maigret-Spot-Interessierten und vier Leute, die dort einen Zombie-Film drehten.

Keine Enttäuschung

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Wie hätten wir enttäuscht sein sollen? Die Erwartungen, mit denen wir dort angekommen sind, waren minimal. Dass es keine hübschen Städtchen sein würden, wie man sie in der Umgebung durchaus findet, wussten wir vorher. Wenn wir wieder mal nach Frankreich fahren, was so unwahrscheinlich nicht ist, wäre die Gegend ein heißer Favorit für einen Zwischenstopp.

Zumal wir eine sehr schöne Unterkunft hatten, die direkt an einem Fluss lag, der sehr reizvoll war. Außerdem gab uns die Gegend die Gelegenheit, einen anderen Maigret-Spot zu besuchen …