
Bildnachweis: Die Wahl -
Die Wahl (I)
Als die Deutschen im Juni 1940 in Paris einmarschierten, versäumten sie es nicht, sich einer publizistischen Macht zu bemächtigen: Die Zeitung »Paris-Soir« war das auflagenstärkste Medium in Paris. Mit ihr betrieben sie ihre Propaganda. Das Manöver blieb den Parisern nicht verborgen. Die Auflage brach auf ein Drittel ein. Wer wollte schon die Kommuniqués der Besatzer lesen?
Die Redaktion war vor dem Einmarsch aus Paris verschwunden und publizierte erst aus Nantes, dann aus Clermond-Ferrand und später aus Bordeaux. Letztlich landete die Zeitung in Lyon. In Paris bleib nur eine Hülle und die musste von den Deutschen neu gefüllt werden. Nach dem Einmarsch am 14. Juni 1940 ging eine neue Redaktion eine Woche später an den Start. Einige bekanntere Autoren, die der Besatzer-»Paris-Soir« gewinnen konnten, hatten nicht mitbekommen, dass die Zeitung unter einem neuen Regime stand. Sie verabschiedeten sich schnell wieder.

Siebzehn Monate nach der Übernahme veröffentlichte die Zeitung eine bemerkenswerte Ankündigung auf der Titelseite. In dieser wurde verkündet, dass der berühmte »Maigret-Schöpfer« Georges Simenon einen Kriminalroman mit dem Namen »Signé Picpus« schreiben würde. Die Leser:innen der Zeitung dürften aus einer Auswahl von Charakteren die auswählen, die Teil des Romans werden sollten.
Nach einer Ankündigung am 18. November 1941, wurden vom 21. November 1941 an die Figuren vorgestellt, denen man – damit die Leser:innen eine Vorstellung haben – die Gesichter von bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern gab. Vom 26. bis zum 28. November sollte die Wahl erfolgen (andere Wahlen gab es damals ironischerweise ja nicht), und es sollte nicht vergessen werden, das Opfer auszuwählen.
Wir werden Ihnen dreißig Personen vorstellen, aus denen Sie die fünfzehn Gesichter auswählen, die Georges Simenon für Sie um den sympathischen Kommissar Maigret herum zum Leben erwecken wird.
Im Anschluss sollte vom 10. Dezember an der komplette Roman in der Zeitung als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht werden.
Wenn das mal nicht ein Marketingcoup war! Das war eine dieser Geschichten, für die Simenon bekannt war. Er war nicht nur Schriftsteller, er wusste auch, wie man sich vermarktete. Die Angelegenheit bekommt deshalb ein Geschmäckle, weil er sich nicht irgendeine Zeitung ausgesucht hatte, sondern die, die von den Deutschen als Verkündungsblatt für deren Propaganda übernommen wurde. Und da lässt es sich drehen und wenden, wie man will, dass Simenon von dieser Tatsache nicht gewusst hat, dürfte im zweiten Jahr der Besatzung keine plausible Ausrede gewesen sein.
Wer seine Memoiren gelesen hat, würde erwarten, dass er auf diesen Coup eingehen würde. Aber über die Umstände der Entstehung dieses Maigret-Romans verliert der Schriftsteller kaum ein Wort:
Ich wusste, dass ich in Fontenay-le-Comte ganz am Anfang in einem kleinen Haus am Meeresufer einen Roman in Fensternähe geschrieben hatte. Indem ich in der chronologischen Liste meiner Bücher nachsah, erfuhr ich, dass es sich um »Le voyageur de la Toussaint« (»Ankunft Allerheiligen«) handelte und dass ihm drei Maigrets folgten: »Signé Picpus« (»Maigret contra Picpus«), »L’inspecteur cadavre« (»Maigret und sein Rivale«), »Félicie est là« (»Maigret und das Dienstmädchen«), alle vier Romane im Sommer geschrieben, dann, im folgenden Frühling, »La fenêtre des Rouet« (»Das Fenster der Rouets«).
Offiziell ist angegeben, dass der Roman im Juni 1941 anstand – wie das mit der Aktion in Einklang steht, die von der Zeitung ins Leben gerufen wurde, darüber lässt sich nur spekulieren. Vielleicht war die Wahl schon gelaufen, bevor sie eigentlich begann.
Das wäre ein Move, der durchaus zu einem Propagandablatt wie dem »Paris-Soir« passen würde. Zur Ehre Simenons in diesen Zeiten gereicht es nicht.