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Die Reise (III)
Gestern habe ich etwas Gutes getan. Ich habe dem Internet den Namen »Norcklid« beigebracht. Endlich weiß die ganze Welt Bescheid, dass es sich bei dem James um einen sehr reichen Mann aus New York handelte, der sich in ein Abenteuer stürzte. Leichte Zweifel, dass wir es mit Freiwilligkeit zu tun hatten, habe ich schon gehabt. Dass sich der Nebel lichtet, kann ich nicht behaupten.

Bei dem großmäuligen Typ, der mir gestern schon sehr unangenehm auffiel, handelte sich um Master John. Sein Alter ließ sich nicht bestimmen – er konnte irgendwas zwischen vierzig und sechzig sein. Falten werden erwähnt und graues Haar. Und wir erinnern uns: Es handelte sich um eine gemeine Type.
Die Kneipenszene war noch nicht zu Ende. In das Gelage platzte, heute würde man Meeting sagen, platzte ein junger Mann, der sofort gefragt wurde, was er wolle. Er war gekleidet wie ein Matrose, sah aber nicht so aus, als hätte er jemals auf einer Planke gestanden. Interessanterweise bekommen wir keinen Namen geliefert, daraus macht Simenon erst einmal ein Geheimnis. Hier wurde er »Milchbubi« genannt und er meinte, er käme für seinen Vater, der als der »der Einhändige« bekannt wäre.
Die zwölf Männer (und Fast-Männer) gingen zum Schiff …
Das Auslaufen
… und obwohl mancher Zweifel hatte, dass dieses Schiff jemals über die Meere schippern würde, war es doch so, dass es sich in Gang setzte und langsam auf den Ozean fuhr. Von diesem ganzen Prozess bekommen wir nichts im Detail mit, außer, dass Master John das ist, was man einen Kapitän nennen könnte.
Alles ächzte, und damit war nicht nur die »Cobra« gemeint. Auch die Besatzung. Ich erwähnte, dass der reiche Typ aus New York um die fünfzig Jahre alt war? Vermutlich hätte er sich einen anderen Trip vorgestellt. Aber ganz geschickt, wie wir bei der Stange gehalten werden: Uns wird nicht verraten, wohin die Reise gehen wird. Aber wir bekommen recht schnell mit, dass James Norcklid unzufrieden ist. Mit seiner festen Stimme versucht er den Widerspruch, wird jedoch von dem Master niedergebrüllt.
In der Nacht gab es eine spektakuläre Wendung. Die erste in dem heutigen Abschnitt, wenn ich so sagen darf: Der Jüngling entdeckt, dass sich ein Kind an Bord geschlichen hat. Es hatte sich in den Kopf gesetzt, die Meere zu bereisen. Obwohl ich nicht weiß, wie es weitergehen wird, habe ich das untrügliche Gefühl, dass es auf einer Jacht besser aufgehoben wäre. Wenn das Bürschlein auf Risiko aus war, hatte er mit dem Schiff, dass auch »Skelett« genannt wurde, die korrekte Wahl getroffen. Über den Jüngling erfahren wir nun:
Der Sohn des Einarmigen, der Master John gegenüber erklärt hatte, er heiße Jean, hörte ernst zu, nicht ohne Verblüffung.
Um hier noch einmal zu sortieren, wer in welchem Stadium der Verblüffung ist: Der Jüngling hörte dem Kind zu und ist verblüfft. Die Leser:innen sind darüber verblüfft, dass der Jüngling Jean hieß. Denn die Tatsache, dass er Jean genannt wurde, mochte er dem Quasi-Kapitän mitgeteilt haben – ich habe nachgeschaut, dem lesenden Volk wurde diese Information vorenthalten.
Überraschung: Das Kind hatte keinen Namen.
Dafür aber der Schwarze mittlerweile, der Little Root gerufen wurde. Ich übersetze es mit »Kleine Wurzel«, was nicht zu dem Typus passt, der beschrieben wurde. Vielleicht gibt es noch andere Bedeutungen, die sich mir nicht erschließen. Little Root wird uns noch im Laufe dieses Kapitels überraschen.
Höhepunkte
Wirklich überrascht bin ich davon, dass es Simenon in späteren Romanen schafft, Seite um Seite zu füllen, die sich oft sehr interessant lesen und die Geschichte voranbringen, passieren tut jedoch oft nichts. Hier ist es ganz anders: Schlag auf Schlag geht es weiter. Als Leser bin ich außer Atem.
Es ist keine große Überraschung, dass Master John schon bald den kleinen Jungen entdeckt. Ebenso wenig dürfte die Leserschaft von der Information überwältigt sein, dass der Kapitän nicht sehr angetan war. Vielleicht habe ich in meiner Kindheit zu viel Traumschiff gesehen, dass mich die Redaktion dann doch mehr an einen bösen Geiselnahmen-Thriller erinnerte, als ich las:
»Was ist das?«, fragte Master John barsch, als er die zarte Gestalt vor sich sah.
»Ein Junge, den ich soeben auf dem Vorderdeck entdeckt habe. Er versteckte sich.«
Master John machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Gesprächspartner aufmerksam zu betrachten.
»Brauche kein Kind an Bord!«, knurrte er. »Werft das über Bord!«
Das Kind quengelte, schrie nach seiner Mama und die zaghaften Interventionen der Mannschaft interessierten den Kapitän nicht. Er hatte bestimmt, dass das Balg ins Wasser zu werfen sei, also hatte haargenau das zu passieren.
Aus der Mannschaft meldete sich Little Root. Er könne das Kind in Obhut nehmen – oh, da war ich gerührt –, und aus ihm ein Diener machen. Ich dachte nur »Was, das meint er ernst?« Die Option hatte den Charme, dass das Kind nicht sterben müsste. Die Kinderarbeitsoption machte mich jedoch skeptisch.
Master John sah seine Autorität in Gefahr und bestimmte deshalb: Das Kind gehe auf jeden Fall über Bord. Wenn es jemand herausfischen wolle, dann könne er das gern tun und dann könne es auch gern Diener-Karriere auf der »Cobra« einschlagen.
Jean hatte seine Zeit auf der Spitze eines Mastes verbracht, ohne zu wissen, wie man sich da hält und was man zu machen ist. Sollte man Mitleid haben? Schwierig zu sagen, da auch seine Motivation an Bord dieses abgerockten Schiffes zu sein, noch unklar ist. Vielleicht strebte er die Weltherrschaft an?
Wendepunkte
Nebenbei wird den Lesenden mitgeteilt, dass es zum einen die Besatzung gab, die angeheuert war. Eine andere Gruppe war die Clique um Norcklid, die es eigentlich nicht notwendig hatten, irgendwo angeheuert zu werden. Und Jean und der Junge, der mittlerweile Moses heißt, bildeten auch ein Grüppchen.
Ungefähr auf Seite zwanzig, und ich schwöre, ich lasse so manches weg, schlich Tsé Kuan – der chinesische Händler – zu den Wasserwässern und bohrte Löcher hinein. Kein Wasser, keine Reise – das war die Intention und einmal mehr bekommt man den Eindruck, dass nicht alle auf diesem Schiff freiwillig dort sind.
Eine große Katastrophe in einer normalen Geschichte, eine großartige Gelegenheit für Master John, die Mannschaft zu terrorisieren. Er ließ antreten, um durch reine Inspektion der Körperhaltung – fast wie ein Mentalist – herauszubekommen, wer der Urheber dieser Schandtat war. Der Chinese hatte kein gutes Pokerface und wurde auf Anhieb identifiziert. Zur Strafe wurde er an den Beinen an einem Mast aufgehängt und richtig hochgezogen. Kein Vergnügen, wie sich leicht vorstellen lässt.
Geschunden kam er nach geraumer Zeit nach unten und musste seinen Wunden pflegen.
Dass nun weniger Wasser zur Verfügung stand, hatte nicht die Wirkung, die sich Tsé Kuan erhofft hatte – der Kapitän kehrte nicht um. Seine Begründung: Er würde sowieso nur Rum trinken und die anderen könnten sich Meerwasser filtern. Ich hatte den Verdacht, dass das noch zu Problemen führen dürfte.
Ich bin offenbar noch nicht im »Abenteuer-Simenon-Flow« gewesen und ahnte nicht, wie schnell der Belgier, die Situation in seinem Roman eskalieren lassen würde. Schon zwei Seiten später gab es eine Meuterei, bei der Master John von der Norcklid-Clique überwältigt wurde und selbiger der Besatzung eine Lösung präsentierte, die sich überhaupt nicht dumm und unattraktiv anhörte: Sie würden wieder zurückfahren, alle bekämen eine stattliche Summe ausgezahlt und man würde seines Weges gehen. Sogar für den Kapitän lobte er eine Prämie aus.
Die Reaktion von Master John: herzhaftes Gelächter.
Für heute ist an der Stelle Schluss. Ich hege die Vermutung, dass das nicht das Ende der Reise sein wird. Wäre auch doof, wo ich noch nicht einmal ein Fünftel des Romans gelesen habe. Das Tempo ist wirklich erstaunlich. Wir haben kaum eine Seite, auf der es keine Überraschung und keine Wendung gibt.
Kritische Anmerkung zum Ende: Der kleine Moses, der ein weißes Kind war (andernfalls wäre es erwähnt worden), wird von seinem schwarzen Herren mit den unsinnigsten Aufträgen beauftragt und von Little Root ordentlich am Arbeiten gehalten. Wäre der blinde Passagier ein Erwachsener, könnte das eine komische Note haben. Schließlich wäre es eine Umkehrung des Üblichen. So hat es eine Note von Niedertracht und Rachsucht, die einen nicht fröhlich stimmt. Zumal es wahrhaft sinnlose Tätigkeiten sind, die Moses aufgetragen werden.


Dieses umfassende Werk vereint detaillierte Informationen über Simenons Werk, und ist ein unverzichtbares Nachschlagewerk für Sammler und Fans. Der erste Band der Simenon-Bibliografie – über die Maigret-Ausgaben – erschien am 31. Mai 2024.