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Der Knipser
Allseits bekannt dürfte sein, dass es in der Vergangenheit Ausstellungen mit Fotografien von Simenon gegeben hat. Über die Jahre haben sich auch ein paar Bildbände dazugesellt, die seine Fotos beinhalten. Die meisten Betrachter:innen dürften Bezüge zum literarischen Werk hergestellt haben. Aber wie sieht ein Profi die Bilder des Schriftstellers? In dem Band finden sich Antworten.

Dem belgischen Fotografen Tristan Boulard, 1982 in Brüssel geboren, wird nachgesagt, dass er eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe besitzt und sich seine Bilder durch die Leidenschaft für das Unsichtbare im Alltäglichen auszeichnen. Nach Studien in Philosophie und Fotografie begann Boulard damit, urbane Räume und ihre Bewohner festzuhalten – stets auf der Suche nach Momenten, die das Verborgene sichtbar machen. Seine Arbeiten spiegeln nicht nur seine Reisen durch Europa wider, sondern zeichnen sich durch seine Fähigkeit aus, intime Geschichten in scheinbar gewöhnlichen Szenen zu entdecken.
Wir haben hier also jemanden, der sich mit der Materie der Fotografie auskennt und den künstlerischen Wert des fotografischen Schaffens Simenons einordnen kann.
Wie eingangs erwähnt: Wer im Gesamtwerk des Schriftstellers bewandert ist – insbesondere jenseits der Maigrets und vor allem im Werk der frühen 1930er-Jahre –, der unternimmt beim Anschauen dieser Fotografien eine Reise durch dieses.
Kurz zusammengefasst: Wen bei der Betrachtung der Abbildungen vom Gefühl beschlichen hat, dass es sich bei den Werken unter künstlerischen Aspekten um Knipserei handelt, dem wird hier recht gegeben.
So wie er ein Feind des Stils in der Literatur ist, wird er nie versuchen, etwas Schönes zu schaffen. Er komponiert seine Bilder nicht, lehnt das Malerische, die Postkarte oder das schöne Bild ab.
Dabei handelt es sich bei dem Vorwort von Boulard jedoch nicht um eine Abrechnung, sondern er setzt in seinem Vorwort die Bilder von Simenon in den passenden Kontext.
Wenn es ein Geheimnis für seine Bilder gibt, dann das, dass Simenon seinen Apparat zückte und einfach abdrückte. Die Objekte seines Interesses waren oft in mehrfacher Hinsicht überrascht von dem, was passierte. Boulard zufolge waren die Menschen, die der reisende Schriftsteller fotografierte, nicht nur überrumpelt, dass der Mann einen kleinen komischen Kasten hervorholte und irgendwas damit machte. Sie hatten auch allzu oft keine Ahnung, was das für eine Technik war und welchem Zweck sie diente.
Die Wertung der Bilder Simenons ist aber nicht durchweg negativ. Boulard betont in seinem Text, dass Simenon es schafft, eine Bindung zwischen sich und dem Objekt herzustellen. Boulard zufolge sieht man in vielen Fotos, dass es nicht nur Simenon ist, der neugierig auf das Gegenüber ist. Auch die Objekte sind interessiert an dem Fotografen, was ihm zufolge an Simenons fröhlicher Fassade liegt und viele Menschen ihn auf Anhieb sympathisch fanden.
Ein Thema in der damaligen Zeit war der Kolonialismus. Offiziell wollte man gerade in Belgien die Bevölkerung für Kolonialismus gewinnen und organisierte zu diesem Zweck Ausstellungen, in denen das Wirken in der Richtung gepriesen wurde, und engagierte Künstler für die passende Propaganda. In unserer Wahrnehmung stand Simenon dem Konzept des Kolonialismus skeptisch gegenüber.
Boulard hegt die Vermutung, dass Simenon einem Trend folgte, der von einer Reihe bekannter Schriftstellern vorgegeben worden war, die offen den Pfad der Kritik eingeschlagen hatten. Der Fotograf nennt als zeitgenössische Gegner des Kolonialismus und der damit verbundenen Propaganda unter anderem André Gide und Albert Londres. Eine möglich Intention Simenons könnte gewesen sein, dass er erkannte, dass das Verfolgen dieser Meinung für ihn profitabel wäre.
Boulard spricht offen den Rassismus an, der sich in den Werken von Simenon spiegelt:
Er gibt sich der Ideologie seiner Zeit hin und beschreibt den Schwarzen als ein Wesen, das seinen animalischen Trieben ausgeliefert und unfähig ist, sich auf die Stufe der »Zivilisation« zu erheben.
[...]
Es wäre unfair, Simenon in den 1930er-Jahren Rassismus vorzuwerfen, doch die Andersartigkeit des Menschen, das Spiel der Erscheinungen, die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen und die Existenz einer proletarischen Klasse bereiten ihm Probleme. Simenon scheint unfähig, den Afrikaner, den Araber, den Juden, den Slawen, den Fremden, den Arbeiter in ihrem menschlichen Reichtum und ihrer kulturellen Tiefe wahrzunehmen. Er sucht immer sich selbst in dem anderen.
Damit führt er einen Punkt an, der hier schon verschiedentlich angesprochen wurde. In späteren Werken ist diese Problematik nicht mehr zu bemerken; was aber vielleicht auch daran liegt, dass er die exotischen Stoffe links liegen ließ und sich auf die Milieus konzentrierte, in denen er sich auskannte.
Kommt jemand von einer Reise aus einem Land zurück, dass man selbst nicht kennt, und man lauscht den Berichten, so erscheint es einem, als wären die Berichterstatter Experten in dem Land. Dabei haben sie nur einen Bruchteil entdeckt, oft das, was die Reiseführer die Fremden haben sehen lassen wollen. Simenon beispielsweise berichtete in mehrteiligen Serien von seinen Reisen nach Afrika. Wenn es hochkam, war er ein paar Wochen vor Ort gewesen, meist nur wenige Tage. Boulard erwähnt in dem Zusammenhang, dass Gide beispielsweise fast ein Jahr in Afrika gewesen war.
Auch hätte Simenon bei seiner Reise nicht etwa den beschwerlichen Weg ins Innere Afrikas gewählt, wie Kollegen von ihm und natürlich die Abenteurer. Er ist über die »Hintertür« – Ägypten – gereist und hat sich so viele Mühen erspart. Außerdem hätte er immer darauf geachtet, dass er möglichst komfortabel reiste. Die Mühen und Strapazen, die er in seinen Romanen schilderte, dürften also in den meisten Fällen wirklich seiner Fantasie entsprungen sein und nicht seinem Erleben.
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Boulard merkt zudem an, dass Simenon während der Reisen kein Tagebuch führte und so das Erlebte im Nachgang aus dem Gedächtnis schrieb. Das nimmt dem, was er in den Reportagen aufzeichnete, einen Teil seiner Authentizität und es ist zu konstatieren, dass wir es bei Simenon in den 1930er-Jahren mit einem Schreiber zu tun hatten, der zwischen dem Journalismus und der Schriftstellerei hin- und herwechselte. Der Journalismus war für Simenon ein Zubrot, so lange er nicht sicher von seiner schriftstellerischen Tätigkeit leben konnte.
Dass er auf den Reisen auch fotografierte, hatte einen netten Nebeneffekt. Die Honorare für einen zusätzlichen Fotografen konnte man sich sparen – oder andersherum: Simenon wurde zusätzlich für die Bilder entlohnt, der er zu den Reisen lieferte und die mit seinen Texten abgedruckt wurden.
Der bei Actes Sud erschienene Band stammt aus dem Jahr 2000 und hat etwa das Format A5. Die hier besprochene Ausgabe ist eine Taschenbuchausgabe. Wer die Ausstellungen mit Simenons Fotografien nicht gesehen hat, wird in diesem Band fündig. Meines Erachtens gibt es Bände, die eine größere Betonung auf die Fotografien legen und auch eine umfangreichere Auswahl zeigen. Das Vorwort von Tristan Boulard mit seinen Einordnungen ist mehr als interessant und machen die Anschaffung lohnenswert – Leser hierzulande haben sich jedoch durch die französische Sprache zu kämpfen. Eine deutsche Ausgabe dieses Titels gibt es nicht.