Arztleiden


Erinnerungen sind trügerisch. Manchmal, wenn ich an einer Baustelle vorbeifahre, bei der die Straße asphaltiert wird, denke ich: »Das riecht aber gut.«, was es für mich auch tut, weil ich mit dem Straßenbelag Teer verbinde, so wie früher. Aber wir asphaltieren heute und die Konsistenz mag ähnlich sein, die dahinterstehenden Stoffe sind unterschiedlicher Natur.

Das mit dem Teer ist eine Sache, die aus der Kindheit kommt. Mein Großvater handelte mit Holz, Farben und Teer – ohne Assoziationen komme ich auch an einem Holzhändler nicht vorbei. Den Holzhandel musste er abgeben, nachdem auf dem Grundstück ein Neubaugebiet errichtet werden sollte. So konzentrierte sich der Opa auf den Handel mit Teer und Farben auf einem kleinen Hof und mir blieben die Gerüche.

In der Umgangssprache teert man Straßen auch heute noch. So, wie es der Arzt Ernest Guglielminetti 1902 erstmals in Monaco praktizierte, als er 40 Meter eines Weges mit Teer versehen ließ. Der Fahrkomfort sollte durch diese Maßnahme erheblich gewinnen und auch die Passanten der Wege dürften sich gefreut haben, schließlich wirbelten vorbeifahrende Fuhrwerke und später Kraftfahrzeuge keine (oder weniger) Staub auf. Die Plus-Seite dürfte sich jedem erschließen, der über schlechte Pisten gefahren ist oder das Vergnügen hat, über Kopfsteinpflaster fahren zu dürfen. Mit heutigen Fahrzeugen mag es auch noch angehen, mal über solche Straßen zu fahren – ich möchte da nur die Federung und die Fahrzeugmöblierung anführen –, die gleiche Strecke mit einem Gefährt der damaligen Zeit gefahren, dürfte bei uns heftige Emotionen auslösen.

Auf der Minus-Seite ist zu vermerken, dass Teer als gesundheitsgefährdender Stoff gilt – wer Teer zu intensiv ausgesetzt war, konnte an Krebs erkranken. Das mag der Grund sein, warum es in Westdeutschland schon seit 1984 ausgemustert worden ist und in Ostdeutschland wurde mit der Wiedervereinigung nachgezogen. Da war mein Großvater zwei Jahre tot und dürfte sich nicht mehr darüber aufgeregt haben. Am täglichen Umgang mit der klebrigen schwarzen Substanz dürfte er auch nicht gestorben sein, denn die Gefährlichkeit des Stoffes entsteht während der Verarbeitung – mit dieser hatte er nichts zu tun.

Teer und Pech

Nun habe ich diesen selbsterteilten Bildungsauftrag und mit diesem im Hinterkopf kann ich nicht zu dem Thema gehen, wie ich »Simenon« und »Teer« zusammengebracht habe. Erst müssen wir gemeinsam durch zwei, drei Abschweifungen.

Teer entsteht, wenn man organische Naturstoffe, beispielsweise Holz oder Öl, einer Wärme-Behandlung unterzieht und dabei möglichst wenig Sauerstoff verwendet. Diese Erklärung ist nicht von einem Chemiker zertifiziert worden. Unter diesen ist diese Methode als Pyrolyse bekannt und wird unterschieden in eine langsame, in eine mittlere und eine schnelle Variante. Die gemütliche Spielart, die sich über Stunden und Tage hinzieht, wird beispielsweise zur Verkohlung von Holz verwendet, welches Traditionalisten unter Grillern sehr wichtig sein dürfte, denn so entsteht Holzkohle.

Anfangs mochte das klebrige, übriggebliebene Zeug noch unwichtig gewesen sein, das Ziel war Kohle. Aber man erkannte bald den Nutzen dieses Rückstandes. Der Rückstand, der dabei entsteht, ist Teer. Der Begriff »Pech« wird oft als Synonym für »Teer« verwendet, aber eigentlich ist Pech ein Rückstand der Teer-Herstellung. So ist Pech teerartig, aber halt kein Teer.

Teer wurde als Konservierungsmittel für Holz genutzt, also gern auch im Schiffbau. Pech klebt dufte und wurde in der Jagd verwendet. Das Thema hatten wir vor geraumer Zeit schon einmal. Die Leute bestrichen Äste und Stämme mit Pech. Setzte sich nun ein Vogel darauf nieder, kam er nicht mehr weg und man konnte ihn bequem einfangen. Das war der sogenannte »Pechvogel«, der halt Pech gehabt hat.

Meine Assoziation wäre eher gewesen, dass es etwas mit damals üblichen »Teeren und Federn« zutun haben könnte. Diese unappetitliche Praxis hatte sowohl mit Pech zu tun wie mit Vögeln (irgendwoher mussten die Federn ja kommen), einen Zusammenhang mit der Begrifflichkeit »Pechvogel« gibt es jedoch nicht. Das »damals« ist in dem Kontext ein sehr dehnbarer Begriff, wurden einzelne Vorfälle auch noch aus dem 20. Jahrhundert berichtet.

Gesundheit!

Doktor Lepage war der Inselarzt auf Porquerolles. Die Praxis lohnte sich kaum, es gab wenig Patienten und er wurde von der ortsansässigen Fischereigenossenschaft bezuschusst. Denn ganz ohne Arzt wollten die Bewohner nicht sein. François Mahé kam der verrückte Gedanke, Lepage die Praxis abzukaufen. Der Inselarzt gab sich anfangs sich spröde, um dann einen Preis aufzurufen, der jeden vernünftigen Menschen hätte abwinken lassen. Aber Lepage hatte erkannt, dass Mahé nicht mehr bei sich war.

Mahé machte eine Beobachtung:

Er behandelte seine Tuberkulose offenbar mit Kreosot, denn das ganze Haus stank danach.

Wenn ich das anmerken darf, rückt Simenon mit den Fakten sehr zögerlich heraus. So ist der Bruder von Élisabeth Klamm in dem Roman immer nur der Bruder, um erst ein paar Seiten vor Schluss als »Georges« tituliert werden. Nicht viel besser ergeht es der Schwester der jungen Frau, die einen Vornamen zum Ende hin bekam. So wird auch aus der Lungenkrankheit Dr. Lepages auf den letzten Seiten eine Tuberkulose.

Was aber ist nun dieses Kreosot? Damit bezeichnet man Teeröl und dieses entsteht, wenn Teere destilliert werden. Wer die Beiträge hier schon hin und wieder gelesen hat, der weiß, dass ich Destillation sehr positive Aspekte abgewinnen kann. Damit liege ich auf einer Linie mit Simenon und Maigret. Dass bei der Destillation von Teer nichts Leckeres herauskommt, wird sich aber jeder denken können. Schon die Beschreibung des Herstellungsprozesses auf Basis von Holzteer verspricht nichts Gutes: Da wird erst eine Behandlung mit Natronlauge gestartet, dann wird abgeschöpft, aufgekocht, bevor verdünnte Schwefelsäure dieser Suppe ihren Rest gibt und Kreosot übrig bleibt. (Auch hier gilt wieder: Diese Aussagen sind stark vereinfachend und stellen keine Bedienungsanleitung dar.) Das Ergebnis hängt davon ab, mit welchem Ausgangsholz gestartet wurde. Es hat einen rauchigen Geruch, manch Whisky kommt mit dieser Note auch daher, aber der Geschmack erinnert an Verbranntes. An der Stelle bin ich genusstechnisch raus.

Die Anwendungsmöglichkeiten von Holzteerölen werden für die Behandlung von Schiffsrümpfen, so sie aus Holz sind, verwendet sowie für Taue, für die Behandlung von Zahn-, Mund- und Magenleiden und in der Tierheilkunde für die Wundbehandlung. Es wirkt schleimlösend und insbesondere Buchenteerkreosot wurde als Hustenmittel verwendet. Vermutlich verwendete Dr. Lepage deshalb diesen Stoff.

Nun ist Teer schon nicht gesund, mit Kreosot sieht es nicht viel besser aus. Einige Substanzen in dieser Mischung gelten als krebserzeugend. So wundert es nicht, dass hierzulande größtenteils aus dem Verkehr gezogen wurde.

Nervenschwäche

Diese Geschichte spielt in reizvollen Umgebungen – das gilt sowohl für den Handlungsstrang am Mittelmeer wie auch für das Département Deux-Sèvres. Die Figuren, mit denen man es zu tun hat, sind aber nicht reizend. Die Hauptfigur – Mahé – ist im besten Fall nur merkwürdig. Sympathie kommt weder für ihn, noch für die Ehefrau noch die Kinder noch … auf.

Mahé war ein Muttersöhnchen gewesen. Die Mutter, so nett und lieb sie gewesen war, hatte sich um ihren Sohn gekümmert: Ihm seine Praxis gekauft, eine Ehe arrangiert und letztlich mit seiner Familie zusammengewohnt, um aber die Fäden in der Hand zu behalten. Auch vor ihrem Tod gab es schon Brüche, denn er hatte sich für den Urlaub auf Porquerolles noch zu ihren Lebzeiten entschieden. Nach ihrem Ableben brach aber alles zusammen. Ein Indiz war, dass er anfing zu trinken, was er zuvor schlicht ablehnte.

Seine Ehefrau Hélène bekam die Veränderungen mit – das Trinken und wie er versuchte, sich in die Gesellschaft von Porquerolles zu integrieren. Aber anderes – die harten Tatsachen – bekam sie nicht mit: seine Vernarrtheit in Élisabeth, seine späteren Besuche in Hyères und auch nicht den geplanten Kauf der Praxis auf der Insel. Das ergibt schon für die Leser:innen keinen Sinn: Élisabeth wusste, dass Mahé existierte, aber sie maß dem Mann keine Bedeutung bei. Sie wusste nicht, dass er in sie vernarrt war. Und die Familie ging davon aus, dass sie am Ende der Ferien, immer wieder nach Hause fahren kann.

Alle waren sich einig, dass er sich seit dem Tod der Mutter verändert hatte, und sogar das Wort »Neurasthenie« war gefallen.

Heute wird man diese Diagnose kaum zu hören bekommen. Bei François Mahé würde man eine anders genannte Krankheit diagnostizieren, zum Beispiel eine Depression oder einen Burn-out. Die Symptome, die mit der klassischen Neurasthenie verbunden waren, tragen neue Namen. 

Die Krankheit, auch Nervenschwäche oder reizbare Schwäche genannt, wurde bei Mitgliedern der besseren Kreise Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts festgestellt. Ich will keine Vermutungen darüber anstellen, ob nicht auch in anderen Kreisen diese Krankheit zu finden war. Dass sie oft in der High Society diagnostiziert wurde, mag daran liegen, dass sich die Ärmeren einen Psychiater nicht leisten konnten.

Die Symptome, die mit der Krankheit verbunden wurde, waren so zahlreich wie der unterschiedlich. Da ist die Rede von Nerven- und Kopfschmerzen, von Impotenz und Frigidität, Lustlosigkeit sowie mangelnder Konzentration. Diese Symptome waren bei François Mahé nicht zu entdecken. Von Müdigkeit und Ängstlichkeit war nicht die Rede. Im Gegenteil: Er fing an, Entscheidungen zu treffen und sich zu integrieren. Das er das zur falschen Zeit am falschen Platz tat, steht auf einem anderen Blatt.

Die Krankheit wirkt wie eine Kram-Schublade. Die Symptome sind bei jedem Patienten anders und sind abhängig davon, welcher Gesellschaftsschicht und welchem Kulturkreis man lebt.

Mahé kam diese amateurhafte Diagnose nicht ungelegen. Er überlegte, ob er auf diese Weise seine Rückkehr nach St. Hilaire hinauszögern könne. Sein Freund, Dr. Péchade, würde ihm vielleicht ein Attest ausstellen. Somit ließe sich auch vieles gegenüber der Familie rechtfertigen.

Der Besuch eines Kundigen wäre angebracht gewesen und das Leben des Arztes wäre in andere Bahnen gelenkt worden. Ein Psychotherapeut hätte sich gewiss mit der Obsession Mahés für Élisabeth beschäftigt und auch hier Auswege bieten können.

Abschließend: Für einen Arzt-Roman gibt es sehr viele kranke Ärzte in der Geschichte. Schließlich erfreute sich auch der Freund Mahés – der schon erwähnte Dr. Péchade – nicht gerade bester Gesundheit. Wenn das nicht Ironie ist.