Über die Story
Es gibt, wie schon in »Police Judiciaire« erwähnt, keine bessere Möglichkeit, das Polizeibild, welches sich in den Maigret-Romanen Simenons entwickelt, zu verstehen, als die Lektüre solcher Reportagen. Diese Reportage ist weit ausführlicher, als die oben angeführte, geht mehr auf die praktische Arbeit in der Öffentlichkeit und die Menschen ein, die Verbrechen gegangen hat, führt uns das vor, was in den Maigret-Romanen gern weggelassen wird.
Umso interessanter ist die Lektüre und man erfasst sehr schnell, das Simenon ein ausgesprochener Polizeifreund war. Er lobt die Arbeit der Polizei in den höchsten Tönen und zeigt mit seiner Reportage eine Tendenz in der Polizei auf, die sich in den späteren Maigret-Romanen wie ein roter Faden zieht: der Wandel der Polizei von Arbeitern, heißt Polizisten die jede Karrierestufe durchschritten haben, hin zu Akademikern, die – so hört es sich bei Simenon hat – dafür keine Ahnung von dem Leben draußen haben; ihnen fehlt schlicht der Bezug zu den Kleinen und Ausgestoßenen der Gesellschaft. Maigret ist, dass versteht man beim Lesen der Reportagen immer mehr, ein Dinosaurier, den keiner angreift, der nichtsdestotrotz aber zum Aussterben verurteilt ist.
»Na, nun sagen Sie mal, was glauben Sie, wie viele Morde aus Habgier werden wohl jährlich in Paris und Umgebung verübt?«
Auf die Frage, die der Chef der Police Judiciaire bisweilen seinen Besuchern mit stets dem gleichen Schimmer von Spottlust in seinen Augen stellt, wird manchmal die Zahl achthundert genannt, zuweilen die Zahl hundert und in ganz seltenen Fällen ist von fünfzig die Rede.
Ich würde mein Ansehen verlieren, wenn ich die Ziffer nennen würde, die ich schätzte, bevor ich die genaue Angabe hörte: »Durchschnittlich sieben!«
Sieben Morde werden aus Profitsucht begangen, und das bei vier Millionen Einwohnern.
Das ist nicht sonderlich viel, wenn man die stattliche Anzahl von Einwohnern nimmt und dann berücksichtigt, dass laut Simenon 165 Morde und Mordversuche in einem Jahr wie 1933 zu verzeichnen waren. Die Chance von einem missgünstigen, raffgierigen Menschen umgebracht zu werden, ist also sehr, sehr klein. Ich hoffe, dass es heute noch genauso ist.
Simenon durchleuchtet in dieser Reportage die Verhörmethoden der Polizei, unter anderem darauf hinweisend, dass die Zeit, in der ein Verdächtiger verhört werden kann, just auf maximal zwölf Stunden pro Tag limitiert wurde. Die Polizei machte sich damals sorgen, ob sie überhaupt noch effizient arbeiten kann, bei solch einer Beschränkung. Kritiker dieser Regel befürchtet, dass man nur noch mit Hilfe des Labors Mörder fangen würde. Er führt uns auf die Straße, an die Basis der Polizisten, die oft genug Verdächtige laufen lassen mussten, weil dieser die Öffentlichkeit mit Sprüchen wie »Haltet den Dieb« mobilisierte (was noch die angenehme Variante des Spiels war). Er lässt uns teilhaben an Geschichten über Sittlichkeitsverbrechen und Bankräuber, über Lynchjustiz und Massenmörder.
Wir bekommen mit dieser Erzählung ein Panorama der Polizeiarbeit der dreißiger Jahre geboten, ein historisches Schätzlein, welches uns verstehen lässt, warum Maigret so geworden ist, wie wir ihn kennen.
Die Erzählung erschien in zwölf Artikel unter dem Titel »Am Rande der Stavisky-Affäre: Hinter den Kulissen der Polizei – vom Quai des Orfèvres bis zur Rue des Saussaies« und erschien in der Zeitung »Paris-Soir« am 26., 27., 28., 30. und 31. Januar sowie am 1., 2., 4., 5., 6., 10., und 11. Februar 1934.