Sträflingsreisen


Strafen und Strafvollzug in Europa heute sind anders ausgerichtet als zu Zeiten Simenons. Damals war es üblich jemanden für zwanzig Jahre in unwirtliche Gegenden zu schicken, in denen seine Überlebenschancen nicht sehr groß waren.

Es war völlig egal, ob der Prozess ein kurzer war oder sich ewig streckte, wie zum Beispiel der von Doktor Michoux, der mit allerlei Winkelzügen einer Verurteilung entgehen wollte. Die Frage soll sich hier auch nicht auf Schuld oder Unschuld beziehen. Waren sie des Mordes angeklagt, durften die Mörder nicht mit Gnade rechnen – entweder wartete auf sie die Guillotine (die bis in die zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein in Frankreich im Einsatz war) oder es war mit einer lebenslangen oder zeitlichen Zwangsarbeit zu rechnen.

Letztere wurde mit Vorliebe in abgelegenen Gegenden französischer Kolonien vollstreckt. Das konnte sowohl in Afrika sein (wie zum Beispiel in dem Fall von Dédé aus »Der Sohn Cardinaud«) oder in Südamerika, wie in einigen anderen Simenon-Fällen.

Dieses Vorgehen war sicher keine Idee der Franzosen. Die größte Strafkolonie dürften sich die Engländer mit Australien geschaffen haben; die Franzosen fanden die Idee aber nicht schlecht. Zumal für viele Verurteilte eine Verurteilung zur Zwangsarbeit einer Todesstrafe gleichkam. Das Klima in den afrikanischen und südamerikanischen Provinzen ist dem gewöhnlichen Europäer nicht zuträglich; harte körperliche Arbeit zwingt den Körper des Strafgefangenen zu einer absoluten Kapitulation – eine Art Glücksspiel. Im schlimmsten Fall hat man dann die Todesstrafe bekommen und kein Recht auf eine Henkersmahlzeit. Aber wer sagt, dass das Leben eines Verbrechers ein Zuckerschlecken gewesen sei?

Aber auf einem Foto, das höchstens einen Monat alt war und in allen Zeitungen erschien, konnte man ihn dann sehen, noch immer mager und gelb, mit schiefer Nase, dem Sack auf dem Buckel, die Kappe auf dem Kopf, wie er auf der Île de Ré an Bord der »La Martinière« ging, die hundertachtzig Zwangsarbeiter nach Cayenne brachte.

Die Île de Re ist ein begehrtes Fleckchen Land gewesen. Die schon erwähnten Engländer waren geradezu närrisch in diese 28 Kilometer lange Insel verliebt, die selten breiter als drei Kilometer ist. Immer wieder versuchten sie die Insel zu erobern. Der Grund: sie war der Vorposten zu La Rochelle.

Die Franzosen waren nicht »auf den Kopf gefallen«, wie schon das Nachahmen des Strafkoloniewesens zeigt, und wussten um die strategische Bedeutung der Insel. So wurde um dieses etwa 85 Quadratkilometer große Land immer wieder erbittert gekämpft.

Für Strafgefangene hatte dieses Land eine ganz andere Bedeutung: es war häufig das letzte Fleckchen Frankreich, was sie in ihrem Leben zu sehen bekamen. Der erste Akt der Verschiffung fand in La Rochelle statt: hier wurden die Gefangen nach Ré verbracht. Bei der Verschiffung auf die Insel wurden die Gefangenen von der gesamten Presse beobachtet (später dann auch von Kamerateams der Wochenschauen), welche die ankommende Gefangenen aufmerksam beobachteten und sich die »Stars« aus der Menge herauspickten.

Michoux war so ein Star – in dem schon angeführten Zitat wird seine Abfahrt geschildert –, der von der Presse aufmerksam beobachtet wurde. Bei einer großen Abfahrt, wie sie nicht alltäglich war, waren sämtliche Hotels auf der Insel ausgebucht. Die Restaurants waren überfüllt. Die Vertreter der schreibenden Zunft waren anwesend, selbstverständlich auch die Angehörigen der Verurteilten, die diese Gelegenheit nutzen wollten, einen letzten Blick auf die Lieben zu werfen, ein letztes Mal die Liebe zu beteuern und Solidarität zu bekunden. Man wusste nie, was kommt.

Es war genau ein Uhr, als sich das Tor der Strafanstalt öffnete und die schwarzen Gestalten der Honoratioren heraustraten. Hinter ihnen setzte sich der Zug in Bewegung, und die Polizisten auf der Uferstraße hielten die drängelnde Menge zurück.

Hauptort der Insel ist Saint-Martin. Ein kleiner malerischer Ort, heute von Touristen bevölkert, die über die Brücke, die La Rochelle und die Insel miteinander verbindet (es versteht sich, dass diese mautplichtig ist), strömen. Natürlich gibt es heute auch keine »großen Abfahrten« mehr, Frankreich behält seine Strafgefangenen für sich. So zum Beispiel in der Nähe von Saint-Martin. Denn dies ist geblieben. Eigentlich recht malerisch gelegen, steht direkt am Meer ein Zuchthaus (so heißt es heute sicher nicht mehr). Die Aussicht dürfen die Insassen sicher nicht allzu häufig genießen dürfen; vermutlich ist die Luft aber besser als anderswo.

Die Gefangenen gingen damals vom Zuchthaus aus in Richtung Hafen. Der letzte Kilometer einheimischer Boden, den sie schon in einer Gefangenenuniform beschritten (in La Rochelle, bei der ersten Verschiffung, trugen die Häftlinge häufig noch Zivilkleidung), hatten eine Decke und einen Rucksack bei sich und trugen eine schwarze Mütze. Sie wurden vom Hafen aus mit Schleppern zu den eigentlichen Schiffen gebracht. Von diesen mussten die Gefangenen an Leitern auf die großen Schiffe emporklettern.

Ein solches Gefängnisschiff war die »La Martinière«. Simenon lässt Doktor Michoux (»Maigret und der gelbe Hund«) mit diesem Schiff die Reise antreten, Elie Nagéar darf über die Leiter dieses Schiff besteigen (»Der Untermieter«) und als Simenon das Treiben bei solcher Verschiffung für eine Zeitung beschreibt (»Eine »Premiere« auf der Insel Ré«), steht dieses Schiff ebenfalls im Mittelpunkt.

Was wohl die Sträflinge denken, die auf dem Dampfer, der stampfend auf Kurs geht, eingezwängt in ihren Verschlägen hocken, das weiß ich nicht.

Vielleicht ja, dass es schade ist, dass sie an so einem schönen Ort nicht länger verweilen dürfen. Die Insel ist sehr reizvoll – die höchste Erhebung der Insel ist der Leuchtturm an der Inselspitze. Die Insel strahlt ein mediterranes Flair aus, was man im Atlantik in der Gegend nicht erwartet. Für Verbrecher mag sie keine Reiseempfehlung gewesen sein, für den Touristen-Normalo heute sieht es etwas anders aus: ein Besuch der Insel lohnt.

Literatur:
»Eine ›Premiere‹ auf der Insel Ré«
»Der Untermieter«
»Maigret und der gelbe Hund«