Brief an meine Mutter


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Für diese Seite sind diese Tage Gold wert. Wann werden solche Tage wiederkommen? Zum 125. Geburtstag, zum 25. Todestag? Um mit einer typischen Floskel zu antworten, die Simenon in seinem Brief an seine Mutter immer wieder verwendet hat: »Ich weiß es nicht.« Es wäre schön, wenn es so bliebe und man weiterhin über die Kleinigkeiten, die das Leben eines Simenon-Freundes beschäftigen können, berichten kann. Möglichst viel.

Ein kleinerer, unabhängiger Verlag hat sich den Brief vorgenommen, den Simenon an seine verstorbene Mutter geschrieben hat. Meine erste Frage war: warum denn das? Kein leichter Stoff, weder für den Leser noch für den Zuhörer. Für Leser, weil er die Zerrissenheit Simenons herüberbringen muss, das Ganze nicht mit Spannung und Dramatik gelesen, wie einen Roman, sondern wie der Zuhörer selbst einen Brief lesen würde – Spannungselemente wären hier fehl am Platze; für den Zuhörer, da man fremde Briefe nicht so gern vorgelesen bekommt (sie haben ja doch etwas intimes) und weil die Briefform häufig etwas Langatmiges hat. In Buchform ist dieser Brief nicht sehr lang. Innerhalb kürzester Zeit hat man ihn durchgelesen und für den Simenon-Liebhaber bietet er eine Fülle von interessanten Informationen, die der Leser natürlich – man sollte immer vorsichtig sein – als Äußerung einer Meinung, als subjektive Sichtweise betrachten sollte. Die Mutter konnte sich gegen die Darstellung nicht wehren (allerdings – und das gibt Simenon in seinem Brief zu bedenken, hatte sie auch nicht gegen die Darstellung ihrer Person in »Stammbaum« einzuwenden, was schon überrascht).

Charles Brauer liest den Brief ruhig und ohne Hektik, fast so, als wenn sich der Schreiber vor dem Absenden noch einmal hinsetzt und den Brief durchliest, um die Gewissheit zu bekommen, dass das, was geschrieben steht, so auch korrekt ist. Die Pausen geben dem Leser Gelegenheit, über das Gehörte nachzudenken. So ist diese CD für mich, der sehr schnell liest, eine Vertiefung gewesen. In einer ersten Beurteilung habe ich mal geschrieben, dass dieser Brief Simenons für mich eine finale Abrechnung ist. Es kommt in dem Brief auch sehr viel zur Sprache, was man nicht unbedingt zum Vorteil Simenons Mutter auslegen kann. Aber als ich Charles Brauer zuhörte, kam ein Ton heraus, der mir beim Lesen nicht aufgefallen ist: Simenon verzeiht seiner Mutter und ist gewillt, sie zu verstehen. Ob es seiner Mutter geholfen hat, dass er während ihrer letzten Woche anwesend gewesen war, sei einmal dahingestellt, Georges Simenon hat es auf jeden Fall etwas gebracht. (Allerdings war es, wenn ich es richtig verstanden habe, die Woche, in der er zu hören bekam, dass seine Mutter es als Jammer empfand, das ausgerechnet sein Bruder Christan früh sterben musst – ein Punkt, der mich zum sofortigen Verlassen der Stadt gebracht hätte.)

Die CD hat einfach den Vorteil, dass einem Charles Brauer mit seinem professionellen Vortragungsstil mehr Raum zum Nachdenken gibt. Raum, dem man sich beim Lesen nehmen könnte, aber meist nicht nimmt, weil man zum nächsten Satz, zur nächsten Information eilt. Der Brief wird über zwei Stunden vorgelesen, kommt deshalb als Doppel-CD daher. Sie ist im HörbucHHamburg erschienen.

Der Brief ist als Mini-Taschenbuch im Diogenes-Verlag erschienen und findet sich auch im Simenon-Lesebuch aus dem gleichen Verlag.