Bildnachweis: Square d’Avroy - Universitätsbibliothek Gent (Lizenz) - Bearbeitung: maigret.de
Vom Platz zum Park
Erst ein spätes Treffen in einem Café, wobei der Einladende nichts sagte. Auf dem Heimweg wollte Maigret jemand eine Kugel auf den Pelz brennen. Er wünschte sich, es würde besser laufen. Am nächsten Tag ging er in der Früh über den Square d’Avroy. In der Übersetzung heißt es: »[...] des Square d’Avroy, den Maigret gerade überquerte [...]«. Da wurde dem Übersetzer wohl ein Bär aufgebunden.
Die Schilderung, wie Maigret über den Square schlendert, ist sehr schön und stimmungsvoll. Sie sollte an der Stelle in voller Schönheit wiedergeben werden.
Der Nebel hatte sich verzogen und auf den Bäumen und jedem Grashalm des Square d'Avroy, den Maigret gerade überquerte, kleine Reifperlen hinterlassen.
Die Assoziation, die man als Lesender an der Stelle hat? Der Mann geht über einen Platz. Es stört nicht, dass von Bäumen und Grashalmen die Rede ist. Jeder kennt Plätze, die keine Wüsten von Beton und/oder Pflastersteinen sind. Wer die Geschichte liest, muss an der Stelle nicht stolpern.
Anders sieht es jedoch aus, wenn nachgeschaut wird, wo sich dieser Platz in Lüttich befindet. Wer die aktuellen Karten inspiziert, wird nicht fündig werden. Das ist kein Drama, Namen ändern sich. Städte bringen berühmte Töchter und Söhne hervor – die sollen geehrt werden, und nicht für jede dieser Ehrungen ist es opportun, eine Straße oder einen Platz in einem Vorort zu wählen. Manchmal sind die Berühmtheiten so wichtig, dass in der Innenstadt eine Umbenennung erfolgt.
Aber das ist nicht das Schicksal, dass den Square d’Avroy in Lüttich ereilte.
Vom Bahnhof (Station des Guillemins) erreicht man geradeaus durch die Rue des Guillemins, an deren Ende sich ein hübscher Blick auf die rings an den Höhen ansteigende Stadt öffnet, den Square d'Avroy, eine parkartige Anlage, welche die Stelle eines ehemaligen Maasarms einnimmt, mit zahlreichen Bronzestatuen und einem im orientalischen Stil erbauten Kaffeehaus (Trink-Hall), wo im Sommer allabendlich Concert stattfindet.
Es folgt eine weitere Beschreibung des Parks: Es gäbe eine Reiterstatue von Karl dem Großen, der anno dazumal Lüttich seine Rechte gab und der »in imposanter Haltung, auf leicht schreitendem Rosse, die Menge mahnend, die Gesetze zu achten« so in den Park schaut. Außerdem fänden sich Bronzegruppen und man hätte einen schönen Blick auf das königliche Konservatorium für Musik, deren Streicherabteilung einen besonderen Ruf hätte.
Die Beschreibung stammt aus dem Buch »Belgien und Holland nebst dem Grossherzogtum Luxemburg« von Baedeker aus dem Jahre 1891. Der Stadtplan ist eindeutig: Diesen Square gab es. Und wer würde Baedeker nicht vertrauen?
Der Begriff »Square« ist so eine Sache: Die Franzosen haben den Begriff zwar dem Englischen entlehnt, verstehen aber etwas anderes darunter, als die Schöpfer des Wortes.
In England und Amerika werden unter dem Begriff verschiedene Typen von Plätzen zusammengefasst. So kann es sich um einen öffentlichen Town Square handeln oder um einen Market Square – oder auch einen Garden Square, bei dem die grünen Bestandteile des Platzes überwiegen.
Die Franzosen dagegen, die haben sich auf das Schöne konzentriert. Niemand käme in La Belle France auf die Idee, einen Marktplatz mit dem Begriff zu versehen. Nein, in Frankreich ist das ein Platz mit einem kleinen öffentlichen Garten oder vielleicht ein reiner Garten. (Es könnte auch eine Kreuzung zwischen mehreren Plätzen sein, aber das ist schon ein wenig abgefahren …)
Nun ist es so, dass dieser »Square d’Avroy« zwar existiert, aber schon auf einer Karte von 1904 war aus dem Square ein Park geworden. Das traf es besser – denn welcher Platz kommt denn mit Wiesen, Bäumen und einem Teich daher? Das ist schon die klassische Parkanlage. Also hatten sich die Stadtväter entschlossen, das Ensemble umzubenennen.
Nur hat sich das offenbar im Sprachbewusstsein der Lütticher nicht eingeprägt, denn anders ist nicht zu erklären, warum Simenon noch den alten Begriff »Square« für den Platz nutzte. Schließlich hat die Umbenennung entweder vor oder unmittelbar nach seiner Geburt stattgefunden und trotzdem verwendete er das »Platz«-Wort fast dreißig Jahre später.
Für das Passieren dieses Ortes hätte das sprachlich auch Konsequenzen: Maigret würde ihn nicht überqueren, sondern durchqueren. Das würde auch zu der Stimmung – Bäume, Grashalme, Reif – besser passen als zu einem Platz.