Le Cépage Montmartrois

Vielleicht eine schöne Story


Die häufige Erwähnung einer Lokalität im Maigret-Universum ist kein Indiz dafür, dass diese tatsächlich existiert hat – die »Brasserie Dauphine« kann als Beweis dafür gesehen werden. Mal streute Simenon wahrhaftiges Lokalkolorit ein, oft entsprang ein Restaurant oder ein Bistro seiner Fantasie. Leichter herauszufinden, was wahr ist, macht es einem der Lauf der Zeit nicht. Diesmal: das »Manière«.

Maigret weilte in der Rue Caulaincourt. Hinter dem Place de Clichy beginnt der Boulevard de Clichy, der kurz darauf abrupt eine Wendung nach rechts vollzieht. Ignoriert man die Biegung und geht weiter geradeaus, nähern wir uns einem literarischen Gedenkpunkt. Während sich die Straße langsam in Richtung Montmartre hochschraubt, spazieren wir am Cimetière de Montmartre entlang, der linker Hand liegt.

Der Kommissar befand sich in der Geschichte deshalb in der Gegend, weil die Wahrsagerin Marie Picard (Künstlername: Mademoiselle Jeanne) in ihrer Wohnung ermordet worden war. Sie hatte sich im August umbringen lassen und draußen war es heiß. Maigret wollte natürlich wissen, was passiert war. Aber sein geistiger Vater pflanzte ihm einen weiteren Gedanken ins Hirn:

Hätte Maigret doch nur die Zeit, auf ein Bier bei Manière vorbeizugehen!

Sich in den Kommissar hineinzuversetzen, fällt leicht. Außer vielleicht, man stolpert über den Namen »Manière«. Wie eingangs erwähnt, ist manches der Fantasie Simenons entsprochen, anderes aber nicht. Wie stand es um dieses Lokal?

Ja, es hat existiert. Auf der Webseite von Steve Trussel gab es einen Beitrag von Murielle Wenger, die auf ein Buch von Michel Lemoine verwies, der sich auf die Spuren der Restaurants, Bistros und Bars gemacht hatte, die Simenon beschrieben hatte. Das habe ich nicht (wobei zum jetzigen Zeitpunkt die Beschreibung »Das habe ich noch nicht.« die korrekte ist). Aber der Name des Bistros wurde als eines der Existenten erwähnt.

Das Interesse war geweckt. Was machen? Erst einmal aufgeben, denn die Suche nach der genauen Adresse brachte keine Ergebnisse, die valide waren.

Das hielt ich jedoch nicht aus, denn allein das Wissen, dass es existierte, war wenig befriedigend. In den frühen Morgenstunden des Folgetages fiel mir ein: Anzeigen! Es wäre doch ein Wunder, wenn der Besitzer des Lokals nicht mal eine Inserat geschaltet hat und in diesem Fall ließe sich über eine Suche in Zeitungsarchiven vielleicht eine Spur entdecken.

Für das Wort »manière« gibt es die verschiedensten Übersetzungen: Art und Weise, Stil, Manier. Also allein die Suche nach dem Wort bringt unzählige Treffer. Fast scheint es, dass die Franzosen eine Vorliebe für dieses Wort haben. Was das noch toppt, ist die Liebe für das Wort »rue« und die Kombination mit »Caulaincourt« macht es erträglicher, aber nicht besser. Das Ergebnis: Das Lokal muss so gut gewesen sein, es hatte es nicht nötig, Anzeigen zu schalten.

Ein kleiner Glücksfall kam mir zupass: Ich fand die Anzeige der P.M.U. (eine Firma für Pferdewetten, die es auch heute noch gibt) in der Zeitung »L'Intransigeant«, die am 27. September 1934 ihre Kunden aufforderte, die Wetten bis 13 Uhr zu platzieren. Eine der in dem Inserat genannten Agenturen befand sich in einem Restaurant namens »Manière« in der 65, rue Caulaincourt. Da hatte ich meine genaue Adresse!

(Ein weiterer Beitrag aus dem Jahr 1940 berichtete, dass just unter der Anschrift ein Louis Manière gestorben war – woraus sich schließen lässt, dass es sich bei dem Namen des Restaurants nicht um ein Wortspiel gehandelt hat.)

Nun ist es schon eine schöne Story, dass ich offenbar die genaue Adresse so aus der Ferne ermitteln konnte. Einigermaßen amüsant finde ich es auch, dass Maigret nur die Treppe heruntergehen hätte müssen, wenn es die 67b in der Straße wirklich gegeben hätte (andere Geschichte), und er sein Bier haben könnte. Aber noch schöner ist, dass ich mit dem Restaurant – oder besser gesagt, seinem Nachfolger (»Le Cépage Montmartrois«), zweimal in einem Jahr in Kontakt gekommen war, ohne zu wissen, dass es eine Verbindung zu Maigret gab.

Image Lightbox

2009 betreute ich ein Projekt in Frankreich. Der Kunde hatte seinen Sitz in der Normandie und der Weg dorthin wie auch zurückführte mich über Paris. Auf dem Weg zurück hatte ich ein wenig Zeit in der französischen Metropole und nutzte diese für Spaziergänge durch die Stadt. So interessierte mich, wie es um die Hausnummer Rue Caulaincourt 67b stand und marschierte dorthin. Offenbar nahm ich die Umgebung auf und fand in meinem Fotoarchiv dieses Foto aus dem März des Jahres.

Keine sechs Monate später war ich mit Freunden in Paris – eine Städtetour – und wir hatten unser Hotel an dem kurzen Ausläufer des Boulevard de Clichy. Von unserem Hotelzimmer aus blickten wir auf den Friedhof. Zwischen unserem Hotel und der Friedhofsmauer lag noch ein Schulhof. Zumindest tagsüber war es sehr belebt, wenn wir aus dem Fenster blickten. Angekommen hatten wir Hunger. Also suchten wir uns ein Restaurant. Aus dem Hotel kommend bogen wir nach links in Richtung der Straße, in der die Hellseherin ermordet wurde, und man glaube es oder nicht … wir aßen auf der Terrasse des Restaurants. Und jetzt schlage ich noch den Haken zum Thema »Bier«: Eine Freundin hatte sich ein solches bestellt, es kam eine Flasche und sie schenkte sich den Inhalt ein. Kaum Schaum, sie machte sich darüber lustig, und ich meinte: »Vielleicht ist es abgelaufen.« Hihi, in der Runde. Sie schaute nach und – Überraschung! – das Bier war seit über einem Jahr abgelaufen.

Zur Ehrenrettung sei gesagt: Ich hatte mir notiert, dass das Essen gut war und die Bedienung sehr freundlich.

So kann ich aber sagen, dass ich ein Bier in einem Restaurant (exakt formuliert: seinem Nachfolger) getrunken habe, dass Maigret gern besucht hätte, um seinen Durst zu löschen. 

Aber »Maigret contra Picpus« ist nicht der einzige Roman, in dem das Restaurant Erwähnung findet. Häufiger wird es in »Maigret und Inspektor Griesgram« erwähnt – Lognon rief aus dem »Manière« bei Maigret an und später trank der Kommissar dort auch sein Bier (in dem Zuge erfährt man auch, dass das Restaurant sein eigenes Briefpapier hatte). Abschließend wollte Maigret Lognon zu einem Abendessen in dem Restaurant einladen … aber leider, leider … Madame Lognon ging es nicht gut.

In »Maigret und die Tänzerin« tätigt Lognon erneut ein Anruf aus einer der Telefonkabinen des Restaurants, um Maigret zu informieren. Die deutsche Übersetzung gibt den Namen als »Chez Manière« an.

Eine ganz andere Fallhöhe bekommt das Restaurant in »Maigret und das Gespenst«, in dem die Lokalität sogar in einer Kapitelüberschrift erwähnt wird (»Das Mittagessen im Manière«). Vielleicht ja deshalb, weil Madame Maigret von ihrem Mann in die Gaststätte »beordert« wurde. Unter der Woche auswärts essen, das war auch für sie etwas ganz besonderes.

Und letztlich bekommen wir es mit der Brasserie noch in einem sehr späteren Maigret-Roman zu tun: In »Maigret und der einsame Mann« spielt sich folgende Szene ab:

Torrence saß auf der Terrasse des »Chez Manière«.
»Ein Bier?«, fragte der Inspektor.
Maigret ließ sich verführen. Es war das zweite.

Ach ja, die Terrasse. Ich komme mir gleich so weltmännisch vor …