Delicious homemade choucroute

Choucroute


Gern blicken wir zurück in die Vergangenheit, vergleichen wie es damals gewesen war und wie es heute ist. Aus unerfindlichen Gründen kommen wir oft zu dem Schluss, dass es früher einfacher gewesen sei. Die Leser:innen der ersten Ausgabe von »Maigret und der Mann auf der Bank« hatten es im zweiten Kapitel des Buches tatsächlich einfacher.

Simenon lässt seinen Kommissar ein wenig schwärmen: Maigret mochte einen bestimmten Abschnitt der Grand Boulevards besonders. Dabei handelte es sich um den Boulevard de Bonne-Nouvelle, der gar nicht so weit von seiner Wohnung entfernt war. Madame Maigret und er spazierten dort gern abends hin und sahen sich einen Film im Kino an.

In einer der frühen Übersetzungen von Kiepenheuer & Witsch wird weiter ausgeführt:

Und genau gegenüber dem Kino befand sich das Lokal, wo er immer gern eine tüchtige Portion Sauerkraut verzehrte.

Der Vorteil dieser Übersetzung ist, dass Leser:innen eine sehr konkrete Vorstellung hatten, was der Kommissar verspeist hatte. Sie hat mit dem Original zwar nur annähernd zu tun, es gab jedoch einen Fingerzeig darauf, was der Kommissar verspeiste.

Nun würde ich nie in ein Restaurant gehen und eine Portion Sauerkraut verspeisen. Nicht, weil ich das Gemüse verabscheue – ich käme nur nicht auf die Idee, in ein Lokal zu gehen, um nur Rotkohl, Brokkoli oder Fenchel zu verspeisen. Das ist die Vorstellung, die sich einem im Kopf festsetzt, wenn gesagt wird, dass Maigret »eine Portion Sauerkraut verzehrt«.

Bei dieser Übersetzung bleibt Raum für Interpretationen, denn die wortwörtliche Übersetzung des Wortes lautet »ein Sauerkraut«. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass der Kommissar sich nur mit Gemüse zufrieden gab?

Spekulation 1

Maigret litt, was aber nicht weiter thematisiert wurde, an einem Vitamin C-Mangel. Dafür gibt es im Text keinerlei Belege, außer der Tatsache, dass es keine Belege dafür gibt, dass sich der Mann gesund ernähren würde. Gibt es eine Stelle in den Geschichten, in der Madame Maigret ihrem Mann einen Apfel- oder Orangensaft hingestellt hätte? Schält sich der Kommissar irgendwo in den Stories ein Mandarine oder hat irgendwann herzhaft in einen Apfel gebissen?

Ich würde es so formulieren: Obst findet in den Maigrets nicht statt, es sei denn in vergorener Form – womit es bedeutungslos für den Vitamin-C-Komplex ist.

Sauerkraut hat dagegen eine Menge Vitamin C und vielleicht hatte ihm Dr. Pardon geraten, nachdem der Kommissar bei der Erwähnung von Obst das Gesicht verzogen hatte, sich auf das Gemüse zu konzentrieren. Der Gedanke könnte Maigret besser gefallen haben, weil er das herzhafte Gemüse mochte. Seine Frau stammte aus dem Elsass und da gehörte das Kraut zum guten Ton.

Spekulation 2

Nehmen wir einmal an, dass ich ein Restaurant besucht habe. Später erzähle ich Freunden davon: »Ich hatte eine Currywurst, die war sehr lecker!« Wie wahrscheinlich ist es, dass ich nur eine Currywurst hatte? Wohlgemerkt, ich war nicht an einem Imbiss – ich habe ein Restaurant besucht. Richtig, die Wahrscheinlichkeit ist klein. Normalerweise wird die Currywurst noch aufgepeppt – meistens mit Pommes und eine Sauce. So verhält es sich mit dem Sauerkraut auch.

Zwar wird »Sauerkraut« im Text erwähnt, als es um die schöne Abende auf dem Boulevard de Bonne-Nouvelle ging. Gemeint ist jedoch vielmehr »garniertes Sauerkraut« – »Choucroute garnie« genannt. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Garniert meint nicht, dass ein paar hübsche Sachen über das Kraut drüberstreuselt werden oder es auf bestimmte Art und Weise gewürzt wird. 

Vielmehr wird das Kraut eingefasst von einer Menge Fleisch. In Deutschland würde ein paar Rippchen, eine Bratwurst oder ein Schweinebraten als Begleiter für das Gemüse gereicht werden. Die Elsässer:innen – und der Rest von Frankreich macht es ihnen nach – machen daraus eine Schlachteplatte.

Typisch ist, dass Würste die Einsamkeit des Sauerkrauts auf dem Teller bekämpfen. Als typische Wurstvertreter werden drei Arten genannt: Die Saucisson Vaudois, die eigentlich aus dem Schweizer Kanton Waadt kommt und dort als »Saucisse aux choux« (also Kohlwurst) bekannt ist. Uns in Deutschland vertrauter sind Wiener Würste, die aus mir unerfindlichen Gründen auch manchmal »Frankfurter« genannt werden. Schließlich wären da noch die Montbeliard-Würste – in der französischen Wikipedia werden sie »doyenne des saucisses« genannt, womit eine führende Rolle unter den Würsten zum Ausdruck gebracht wird. Ich weiß nicht, ob mich die Übersetzung »Dekanin der Wurst« oder »Wurst-Dekanin« überzeugt – aber Freunde von Ranglisten werden diesen Fingerzeig dankbar aufnehmen.

Mit Würsten allein ist es nicht getan: Gern gesellt sich Speck, Schulterspeck und Schinken dazu. Ein Arzt hätte, wenn er das Rezept zu garniertem Sauerkraut liest, nicht das Gefühl, er würde etwas sehr Gesundes empfehlen. Erinnern wir uns zurück an die Geschichte um den Kur-Aufenthalt von Maigret[MIK], dann dürfte schnell klar werden, dass weder der Haus- noch der Kurarzt diese Art von Sauerkraut auf den Speiseplan gesetzt hätten.

Selbstverständlich behandelt auch Robert J. Courtine in dem Buch »Maigret und Simenon bitten zu Tisch« das Thema »Sauerkraut« – dort wird es als Pariser Sauerkraut aufgeführt. Als Zutaten für das Gericht werden Speckscheiben, Brustspeck, gepökeltes Schweinefleisch, Eisbein und eine kleine Knoblauchwurst genannt. Eine Reihe von Indizien deuten darauf hin, dass dieses Rezept nicht in der Zeitschrift »Köstlich vegetarisch« erscheinen wird.

Choucroute

Und dem Kino gegenüber befand sich die Brasserie, wo er gern eine Choucroute aß.

So ist es in der neuen Übersetzung zu lesen, die bei Kampa erschienen ist. Das ist ohne Zweifel am Original näher dran als »eine tüchtige Portion Sauerkraut« aus der früheren Übersetzung. Das »eine« gab mir zu verstehen, dass es sich um ein Gericht handeln würde und nicht um eine unspezifische Menge. Mit meinen Französisch ist es nicht so weit her, dass ich mich irgendwo hinstellen würde und behaupte, ich würde die Sprache beherrschen. Ich schlug das Wort nach und dachte mir: Warum wurde es nicht übersetzt? Was wäre so schlimm an:

Und dem Kino gegenüber befand sich die Brasserie, wo er gern ein Sauerkraut aß.

Käme mir in den Sinn, dass Maigret sich auf eine wahllose Menge an Sauerkraut stürzt? In meiner Vorstellung wäre durch die Formulierung schon klar, dass es eine Reihe von Extras zu dem Sauerkraut gäbe. Maigret würde ein Art Sauerkraut+ essen. So wie beim Grünkohl. Würde dieser von einem Norddeutschen bestellt werden und es käme der pure Grünkohl – das Entsetzen dürfte groß sein. Ein wenig mehr darf es auch da sein!

Ein Gutes hat diese Nichtübersetzung: Ich habe jetzt eine genaue Vorstellung davon, was mich erwartet, ließe ich mich in Frankreich dazu hinreißen, ein »Choucroute« zu bestellen. Mein kulinarisches Glück würde ich mit dem Gericht nicht finden.