Punkt

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Auf der Webseite ist viel Meinung zu finden. Da gefällt mir mal dieses nicht und mal begeistert mich jenes, hin und wieder findet man Spuren von Enthusiasmus. Privates ist auf diesen Seiten Maigret und Simenon vorbehalten. So will ich es weiterhin halten. Trotzdem ist es mir ein Bedürfnis, eine Ausnahme zu machen, auch wenn der Anlass ein sehr trauriger ist.

Anrufe in den Morgenstunden verheißen nie Gutes. Als am Mittwoch um sechs Uhr morgens das Telefon klingelte, wusste ich, was geschehen war – in der Nacht war mein Vater verstorben.

Eine Überraschung? Ja. Nein. Mein Vater, 84 Jahre alt, war seit längerem schwer krank gewesen. Uns war das bewusst. Die Ärzte redeten nicht um den heißen Brei herum. Aber wir hatten Pläne: Einen gemeinsamer Urlaub an der Ostsee war geplant und sein 85. Geburtstag im Juni, den wir mit der Familie feiern wollten, stand bevor. Ein paar gute Monate, vielleicht ein wenig mehr, das hatten wir uns erhofft. Das hatte er auch. 

Ein paar Erinnerungen …

Keine Ahnung

Ich war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen und ging mit einem Klassenkameraden irgendwohin. Er fragte mich, ob ich wüsste, mit wem er überhaupt gar nicht zurechtkommen oder mögen würde. Wir waren in der Pubertät und in der Schule – mir fielen eine Menge Namen von Leuten ein, die ich nicht mochte. Aber nachdem die Namen genannt waren, die auf meiner Liste hatte, gab es keine Übereinstimmung mit seiner Liste. Es war ein Herumraten. Das Geheimnis konnte ich nicht lösen. Er meinte: »Dein Vater.«

Verstand ich nicht.

Perplex war ich. 

Wie er auf diesen abwegigen Gedanken gekommen war, konnte ich mir überhaupt nicht erklären. 

Mein Vater war immer da, wenn man ihn brauchte. Um Rat gefragt, hat er seine Meinung gesagt – aber nicht aus der Hüfte geschossen, seine Ratschläge waren durchdacht und ausgewogen. Er hat mich vor einigen dummen oder zumindest nicht ganz cleveren Entscheidungen bewahrt.

Das ist die richtige Stelle, um auf ganz undiplomatische Art und Weise dem Klassenkameraden T. zu sagen: »Das war ausgemachter Blödsinn, den du damals von dir gegeben hast.«

Slawistik

Meine Mutter erzählte uns, dass unser Vater außerordentlich gut Russisch gesprochen hat. Die erste Reaktion von Leuten, die ihn kannten, dürfte sein: »Kein Wunder! Er war ja Russisch-Lehrer an einer Hochschule.« Aber diese Statements kamen von anderen Lehrern, die im Slawistik-Bereich arbeiteten – denn weder seine Frau noch seine Kinder zeigten irgendeine Begabung im Sprachbereich auf, geschweige denn im Russischen.

Als Kind wollte ich sehen, wie mein Vater unterrichtet. Mir hätte klar sein können, dass ich das jeden Tag zu Hause habe, aber nein – ich wollte eine Unterrichtsstunde an der Hochschule mit seinen Studenten erleben. Wie das mit Kindern so ist, fand ich das ganz schnell sehr langweilig und eine Seminarstunde kann sich ganz schön ziehen.

Mir ist auch in Erinnerung, dass ich versuchte, eine Russisch-Hausaufgabe auf dem ganschnellen Weg zu lösen. Besser gesagt: lösen zu lassen. Die Wohnung war voller Gäste, weil irgendetwas gefeiert wurde. Es war mitten in der Woche, und ich bin zu meinem Vater und fragte, ob er mir helfen würde. Natürlich hat er das gemacht – mit mir gemeinsam. Die Gäste durften bleiben, wo sie waren und feiern. Er kam mit in mein Zimmer, setzte sich zu mir und nahm sich alle Zeit, um die Hausaufgabe zu bearbeiten. Noch nie hatte ich so viel Zeit benötigt, um eine einzige Hausaufgabe zu erledigen. Meinem Vater genügte es nicht, dass ich die richtige Lösung nannte – nein, ich musste erklären, warum es korrekt war und ein »Ist halt so!« war keine akzeptable Replik. Den Fehler habe ich nie wieder gemacht! 

Überhaupt Hausaufgaben: Er wusste, wie er mich auf die Palme bringen konnte. Jeden Tag oder jeden Abend fragte er: »Und, hast du die Hausaufgabe gemacht!« »Hausaufgaben! Wir bekommen nie nur eine Aufgabe auf!« »Na, gut! Hast du sie gemacht?« Ja, hatte ich, außer ich wollte nicht. Aber diesen Dialog hatten wir gefühlt jeden Tag geführt, außer an Sonnabenden.

Ich war ein kränkliches Kind und fehlte öfter in der Schule. Nach der Genesung und in der Phase, wo es mir schon besser ging, habe ich mir die Hefter von Klassenkameraden geborgt, normalerweise von den Besten der Besten. Dazu gehörte ich nicht. Die Klassenbeste lieh mir bei einer Gelegenheit ihren Hefter für Russisch. Mein Vater hatte nichts Besseres zu tun, als sich am Abend hinzusetzen und ihre Aufzeichnungen zu korrigieren. Mit roter Farbe. Ich war wirklich in Erklärungsnot und Lachen konnte ich darüber erst einige Zeit später.

Am Anfang eines Schuljahres bekamen wir gesagt, bei wem wir welchen Unterricht hatten. Ein-, zweimal kam es vor, dass wir den Namen der Lehrkraft sagten, die uns in Russisch unterrichten würde, und er meinte nur: »Na ja, …« Das Schlimmste: Ich musste mich in einer Klasse vorstellen und nannte meinen Namen. Die Lehrerin, die auch Russisch lehrte, schaute auf und meinte: »Ihr Vater arbeitet an der Hochschule?« Ich bejahte und war den Rest des Jahres geliefert.

Hinter uns her und dem Unkraut

Die Mutter lieb, die Schwester lieb, aber von dem missratenen Bengel konnte man das nicht sagen und, nun ja, die Putzi – unsere Hündin – war des Sohns beste Freundin, was sollte man erwarten? Der Hund gehorchte meinem Vater, aber interpretierte die Regeln nach dem Motto: »Wo kein Kläger, da kein Richter.«

Sie durfte nicht auf dem Sessel des Vaters sitzen: Aber sobald alle im Bett waren, erklärte den Stammsitz des Hausherren zum Putzi-Sessel. Das blieb nicht unbemerkt, denn zum einen pflegte sie zu Haaren und zum anderen leuchteten einen ihre Augen an, wenn ich nachts mal auf Toilette musste. Dann sprang sie auch nicht herunter. War ja nicht das Herrchen! 

Der Sohn war auch nicht immer folgsam. Eine beliebte Drohung in meinem einstelligen Alter war: »Und dann bekommst du was mit dem Teppichklopfer auf Hinterteil.« Er war Pädagoge genug, zu wissen, dass man nicht nur Drohen darf, sondern konsequent sein musste. So wie er es handhabte, klappte es jedoch nicht. Er stand mit dem Teppichklopfer in der Tür und ich realisierte den Ernst der Lage, flitzte von unserem Kinderzimmer zum Wohnzimmer. Er hinterher. Um die Sessel herum, zurück zum Kinderzimmer. Unter den Tisch. Vorteil Kind. Der Papa hinterher. Wieder ergriff ich die Flucht ins Wohnzimmer durch die ganze Wohnung und drehte meine Runde hinter dem Sessel oder über den Sessel. Das Problem beim Laufen war letztlich nicht Erschöpfung, weder bei ihm noch bei mir. Wir konnten nur nicht mehr vor Lachen.

Mein Vater stand immer in der Tür zu meinem Zimmer, weil er befürchtete, dass ich irgendwohin zu spät kommen könnte. Er hatte kein Verständnis dafür, auf den letzten Drücker loszugehen. Aus mir unerfindlichen Gründen hatte er die Vorstellung, dass eine Straßenbahn in Potsdam früher kommen könnte. Meinen Beteuerungen, dass das noch nie passiert sei, schenkte er keinen Glauben. Waren wir mit ihm unterwegs, war es gut möglich, dass wir eine Straßenbahn oder einen Bus zuvor erreichten.

Zurück zu unserer Putzi: Wir waren im Garten gewesen und es gab Kotelett. Eine eherne Regel war es, dass der Hund die Knochen bekam. Bei einem Haushalt von vieren (plus eins) konnte sich Putzi darauf freuen, nach dem Mittagessen vier Knochen zu bekommen – ein Fest! Allerdings kaum zu schaffen, also beschloss sie die Knochen zu deponieren. Dafür wählte sie ein Bett, welches am Vormittag gerade von unserem Vater hergerichtet worden war. Da war der Papa hinter dem Hund hinterher … und wir saßen lachend in der Laube. Aber der Garten war wichtig. 

Irgendwann fand in Potsdam die Bundesgartenschau statt. Ich meinte dazu immer, dass der Garten meines Vater zum offiziellen Gelände gehörte. In der Kolonie, in der sich unser Garten befindet, hatten wir nie den hübschesten Bungalow – aber der Garten mit seinen Blumen der war unübertroffen. Der Rasen in dem kleinen Refugium befand sich stetig auf dem Rückzug.

Im Garten wurde auch oft und gern gegrillt. Es hat immer für die doppelte Anzahl von Gästen gereicht. 

Video und Reisen

In unserer spätpubertären Phase unternahmen wir noch eine Urlaubsreise mit unseren Eltern. Nach Ernstroda. Es war nicht schön. Meine Schwester und ich waren uns einig: Nie wieder!

Wann war das? Die Pet Shop Boys hatten »It's a sin« als Hit. 

Es gingen nur ein paar Jahre ins Land, dann begann ich meinen Zivildienst und das Geld war knapp. Also warum nicht mit dem Schwesterchen und dem Vater in den Urlaub fahren? Gesagt, getan – wir mieteten ein Ferienhaus in der Bretagne und machten eine (Video-)Jagd auf fette, bretonische Kühe. Das Letztere war ein Herzensanliegen eines Vaters gewesen, der die unbedingt Filmen wollte. »Ist die recht?« fragten wir ihn, und ich will nur so viel verraten: Die erstbeste Kuh konnten wir nicht nehmen.

Ich weiß nicht, was wir uns da Ende der 90er-Jahre geschworen hatten … wir gingen immer wieder mit unseren Eltern auf Reisen.

War man mit meinem Vater auf Reisen, dann war das so, als wäre man mit einem Borg unterwegs. Er hatte immer die Kamera vor dem Auge und filmte die Umgebung. An Tagen, in denen nichts im Fernsehen kam (also keine Tier- oder Reise-Dokumentation, auch einige Quiz-Shows fanden seine Gnade), unterhielt er meine Mutter mit den alten Reise-Videos.

Ich habe mir das abgeschaut und zusätzlich meinen Spaß am Filmschnitt gefunden. Der Senior-Kameramann in der Familie arbeitete gern mit einem Weitwinkel-Objektiv. Bei der Verarbeitung des Rohmaterials sah ich oft, dass die Aufnahmen nicht so schön waren, wie sie hätte sein können. Ich redete mir den Mund fusselig, aber er blieb beharrlich. Das Objektiv blieb auf der Kamera und gab es kritische Situationen, dann wurde das gute Stück entweder unter seine Jacke beschützt oder in eine Plastiktüte gewickelt.

Die aufregendsten Reisen machten wir, da war er schon weit über siebzig: zweimal nach Afrika, jeweils einmal in die USA und nach Vietnam. Dort tätschelten die Leute ihm den Bauch, weil er ein wenig wie ein Buddha aussah – das sollte Glück bringen. Er mochte das nicht.

Alles was mit Natur zu tun hatte, genoss seine volle Aufmerksamkeit. Wasserfälle, Tiere, Pflanzen. Am Strand rumliegen? Niemals. In der Nähe gab es sicher eine schöne Kirche, eine Burg, ein Schloss oder ein anderes Gebäude, das man sich anschauen konnte. 

Fahrten durch Schlamm und durch kleine Königreiche, das war es, was ihm gefiel. Sachen, die plötzlich und unerwartet kamen, darauf war er erpicht. 

Als wir gemeinsam in den USA waren, die Hälfte der Reise war absolviert, erwähnte er  – fast nebenbei –, dass er seine Portmonee zu Hause in Deutschland gelassen hatte. Er würde es nicht brauchen. Das »Was?!« meiner Mutter klingelt immer noch in meine Ohren.

Bücher, Bücher, Bücher ... aber nie Simenon

Wir bekamen von ihm immer Bücher geschenkt. Auch zwischendurch. Wenn wir als Kinder sagten, wir bräuchten Geld für den Zeitungskiosk, da hatte er das Geld schon gezückt, bevor wir bei der Silbe »tung« waren.

Saß man im Eck und las, war er glücklich … zumindest, nachdem man ihm die Frage nach der »Hausaufgabe« zufriedenstellend beantwortet hatte. Ein Stubenhocker als Sohn? Für ihn war das kein Problem.

Ich habe ihn in den vielen Jahren nie einen Roman lesen sehen. Wenn er in einem Buch schmökerte, so waren es Sachbücher und Lexika. Von denen lagen immer welche in der Nähe und er recherchierte gern im Internet weiter. Im Fokus dabei hauptsächlich historische Themen oder Geografie.

In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre lebte ich in Westensee und er half mir beim Umzug und der Einrichtung. Abends saß mein Vater in »seinem« Sessel, ein Glas guten Rotwein an seiner Seite, in irgendeinem Buch aus meinem Bücherregal stöbernd und dabei lief Jazz – das konnte er gut haben, genoss es. 

Das Buch war aber kein Simenon. Komisch.

Papi

»Kommen wir über den Hund, kommen wir über den Schwanz.« – das war mein Vater. Immer ein Schnack zu Mitmenschen auf den Lippen, eine scherzhafte Bemerkung. Jederzeit bereit, sein Wissen zu teilen. Niemand war überrascht, wenn man erzählte, dass unser Vater Lehrer war.

Nach dem Duschen oder Baden fönte er uns die Haare. Wir saßen auf seinem Schoß und er inhalierte mit uns: »Noch fünf Minuten!« Da saßen wir auch, wenn er mit uns eine Pampelmuse aß.

Kam ich als Lehrling spät nach Hause, dann lief der Fernseher, mein Vater eine Zeitung auf den Knien und schlief. Ich schaltete den Fernseher aus und im selben Augenblick hörte ich hinter mir: »Das habe ich mir angeschaut.«

Er stand im Morgengrauen auf, um zu rauchen. Er ging sehr spät zu Bett – vermutlich wegen seines Hanges zu Zigaretten. Hätte man ein Symbolbild für einen Kettenraucher genötigt – mein Vater hätte es sein können. Mitte der 90er-Jahre wurde er operiert, ihm wurde gesagt, dass er nicht mehr Rauchen solle und er hörte von einem Tag auf den anderen auf.

Mein Vater kochte selten für uns. Einmal wagte er in der Abwesenheit unserer Mutter ein Experiment: Er pürierte eine Erbsensuppe oder Weiße Bohnen-Suppe und verkaufte uns seine Kreation als Kartoffelsuppe. Das war sehr gewagt! Aber er versprach uns, dass wir, wenn wir auf gegessen hätten, ein Eis bekommen würden. An dem Tag hat das geklappt. So riskant agierte er sonst nicht.

Er machte mir immer Frühstück, so lange ich zu Hause lebte und später auch noch: Eine zeitlang zwei Brötchen mit Pflaumenmus, phasenweise auch Schokoladensuppe mit Zwieback. 

Jeden Morgen, egal wann wir aufstehen mussten, hat er uns geweckt.

In der Küche hatte er zwei Aufgaben: Er war für Verfeinerung der »Dicken Möhren« zuständig. Meine Mutter musste die Domäne, die normalerweise die ihre war, komplett räumen, wenn er Sauerkraut-Piroggen zubereitete. Jedes Mal ein Festmahl, bei dem wir am Ende genudelt auf der Couch saßen und lagen.

Er aß fast alles und aß es gern. Für sein Leben gern knabberte an Knochen und wenn Huhn gekocht worden war, schlurfte er genussvoll die Haut.

Was wir auch machten: Er forderte uns, er förderte uns und er war unendlich stolz auf uns. Zu wissen, dass er das tat, war und ist unschätzbar.

Wir haben ihn nie Vater oder Papa genannt. Er war immer »der Papi«.

Der beste Papi, den man sich vorstellen kann.

Der Papi ist am 2. März gestorben.

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Ewald Hahn – 1937-2022