Le matin 14-03-1944

Keine gewöhnliche Affäre


Es gab Beschwerden, dass der Mann als Bürgermeister Geld der Gemeinde unterschlug. Als er abgesetzt wird, trat der Gemeinderat aus Solidarität zurück. Seine Geliebte verschwand und man beobachtete den Mann dabei, wie er etwas in sein Auto lud, was wie ein Torso aussah. Aber er kommt auch damit davon, weil man die Frau für eine Ausreißerin hält und nicht weiter ermittelt.

Die Zahl der Gelegenheiten, wo man hätte Schlimmeres verhindern können, waren – mit Abstand betrachtet – zahlreich. Wenn man alle Fakten gesammelt hat und sich ein Gesamtbild abzeichnet, lässt sich natürlich immer klug daher schnacken. Den Opfern von Marcel Petiot wäre es recht gewesen, wenn man den Verbrecher schneller gefasst hätte – sie hätten ihr Leben länger genießen können.

Aufreger

Geht es nur mir so oder können sich andere Leute auch darüber aufregen, dass in einem Artikel auf Dinge referenziert wird, die mit der eigentlichen Sache nichts zu tun hat? Ich habe das Gefühl, dass das eine Online-Marotte ist. Ein kleines, wenn auch ausgedachtes Beispiel:

Bei einem Brand ein einer Kälbermästanlage in Flunkel im Kreis Rendsburg-Eckernförde kamen am gestrigen Sonnabend 74 Kälber ums Leben. Das Feuer entstand durch einen technischen Defekt, der wohl durch den starken Regen ausgelöst worden ist. Die Feuerwehr vermeldet, dass die Feuersbrunst sehr schnell gelöscht werden konnte und man 153 Tieren das Leben retten konnte. Der Bauer zeigte sich dankbar.

Bei einem vergleichbaren Brand im letzten Jahr kamen in der Nähe von Nürnberg 214 Hühner ums Leben.

Beim Lesen eines solchen letzten Absatzes zucke ich jedes Mal zusammen und frage mich: »Wo, bitteschön, ist denn jetzt der Zusammenhang?« Es hat gebrannt, das habe ich verstanden. Es sind Tiere ums Leben gekommen, auch das ist mir klar und ich finde es bedauerlich. Aber ich sehe den Zusammenhang nicht, wenn es sich ein Ereignis handelt, dass an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit mit anderen Beteiligten stattgefunden hat. Will man mir zeigen, dass man in der Lage war, im Archiv zu recherchieren? Ist das der Zweck oder soll nur darüber hinweggetäuscht werden, dass die Artikeltiefe an sich dürftig ist.

Dank eines solchen Artikels, diesmal in der fiktiven Form, bin ich auf die reale Person Marcel Petiot aufmerksam gemacht worden, die Frankreich eine Affäre sondergleichen bescherte. 

Die Kriminalpolizei ermittelt seit gestern in einem Fall, der eine neue Affäre Petiot werden könnte, mit dem Unterschied, dass diesmal zwei Ärzte und nicht nur einer darin verwickelt scheinen.

Der kleinste gemeinsame Nenner bei dieser Angelegenheit ist, dass Mediziner darin verwickelt sind. Man weiß jedoch nicht in welcher Art und Weise: Der eine Arzt ist der Ehemann des Opfers und der andere ist die Vertretung. Zum Zeitpunkt der Meldung weiß niemand mehr. Warum sollte das eine Affäre werden, die sich mit der Petiot-Geschichte vergleichen lässt?

Wir sehen anhand dessen, dass sich in der Journalistik nichts geändert hat und die gleichen Fehler immer wieder gemacht werden.

Maigret hatte in dieser Ermittlung einen anderen Lieblingsjournalisten, den er sogar mit Hinweisen fütterte. Dieser arbeitete beim Wettbewerbsblatt. Lassagne hieß er und war nicht groß von Statur. In seinen Berichten pflegte er einen sehr prosaischen, romanhaften Stil. Er schrieb dann Sachen wie:

Obwohl die Polizei wenig Bereitschaft zeigt, Informationen preiszugeben, haben wir durch eigene Recherchen folgende Einzelheiten herausfinden können.
[...]
Was ist geschehen? Das Schweigen der Polizei macht es uns schwer, den Ablauf der Ereignisse nachzuvollziehen, aber einige Tatsachen stehen fest.

Wenn das der Bericht über ein Ereignis heute wäre und in dieser Form veröffentlicht würde, ich wollte das weder in einer Tageszeitung und noch in einem Online-Portal lesen. Ich will Sie als Leser:innen nicht weiter auf die Folter spannen – so wie Lassagne, der ein riesiges Glück hatte, dass er sich mit zwei »s« schrieb – und auf den Ausgangspunkt des Artikels zurückkommen: Marcel Petiot.

Sein Weg

Die Ausreißerin kehrte nie wieder zurück. Seinen Bürgermeisterposten verlor er, aber kurz darauf zog er in den Rat einer anderen Gemeinde ein. Er manipulierte einen Stromzähler und wurde aus der Vertretung entfernt, diesmal ohne größere Proteste. Als sich die Verfahren häuften und Gerüchte aufkamen, er könne auch mit dem Verschwinden seines Dienstmädchens wie mit dem Brand einer Molkerei, bei der die Besitzerin starb, zu tun haben, verließ Petiot die Bourgogne und ging nach Paris.

Dieser Wechsel in die Hauptstadt war kein Neuanfang. Der Arzt machte da weiter, wo er aufgehört hatte. Seine Praxis bewarb er mit großem Tamtam und versprach für die verschiedensten Krankheiten Heilung. Dabei bot er Elektrotherapie an und bezeichnete sich als Spezialist für Entgiftung. So konnte er Rauschmittel verschreiben, ohne als Drogenhändler angesehen zu werden. Scheitern tat er nicht am Großen und Offensichtlichen, es waren Kleinigkeiten, die ihn zum Stolpern brachten. So wurde er in einer Buchhandlung beim Diebstahl erwischt und musste sich vor Gericht verantworten. Dem erklärte er, dass »ein Genie sich nicht um materielle niedrige Dinge kümmert«. 

Eine solche Aussage reichte schon, dass er als verrückt angesehen wurde und statt ins Gefängnis kam er in ein Krankenhaus.

Die Experten waren uneins, wie sie Petiot nehmen sollten. Die Ansichten schwanken zwischen »wahnhaft und unverantwortlich« und »ein skrupelloser Mensch, ohne moralischen Sinn«. Wie man es dreht und wendet: Weder die eine noch die andere Deutung sind vertrauenserweckend für einen Menschen, der als Arzt praktiziert. Gerüchte über illegale Abtreibungen und falsche Atteste sorgten nicht dafür, dass sein Geschäftsgebaren untersucht und der Mann aus dem Verkehr gezogen wurde. 

Keinen sollte es wundern, dass der Arzt 1942 erneut vor Gericht erscheinen musste – diesmal waren es Betäubungsmitteldelikte und Petiot hatte wiederum Glück. Diesmal waren die beiden Belastungszeugen verschwunden. Petiot kam mit einer Geldstrafe davon, die er aus der Portokasse bezahlt haben dürfte.

Der Mann hatte schon einiges auf dem Kerbholz, bevor er sich daran machte, die Idee zu verwirklichen, die ihm letztlich den Kopf kosten würde.

Vor dem Arztsein

Sich dem Glauben zu ergeben, dass die »Halbgötter in Weiß« bessere Menschen wären, ist naiv. Ein Blick ins Nachrichtenarchiv würde einen schnell eines Besseren belehren. In diesem Fall hätte es geholfen, wenn man vor der Zulassung zum Studium nachgeschaut hätte, wie sich Petiot in seiner Kindheit und Jugend so gegeben hatte.

Marcel Petiot wurde am 17. Januar 1897 geboren. Damit ist er ein klassischer Steinbock … und mir sagt das überhaupt nichts, denn ich halte von solchen Sachen gar nichts.

Fangen wir noch mal an: … geboren. Seine Eltern lebten in Auxerre (in der Bourgogne) und die Verhältnisse, in denen er aufwuchs, kann man guten Gewissens kleinbürgerlich nennen. Sein Vater arbeitete erst als Angestellter bei der Post, bevor er Postmeister wurde. Seine Mutter war Hausfrau.

Er fiel durch seine Intelligenz auf. Gerüchte darüber, dass er schon als Kind brutal war, sind nicht erwiesen – vieles von dem, was man sich später erzählte, gehören wohl ins Reich der Märchen. Es gibt keine Belege für diese Geschichten. 

Seine Mutter starb, als er zwölf Jahre alt war und vielleicht begangen zu diesem Zeitpunkt (und dem damit verbundenen Umzug), die Probleme.

In der Schule fiel Petiot durch Disziplinlosigkeit auf und wurde deshalb von der Lehranstalt verwiesen. Ein Fall für die Justiz wurde er erstmals, als er im Alter von siebzehn Jahren, weil ihm Einbrüche in Briefkästen nachgewiesen wurden. Petiot suchte in der Beute nicht nach Geld und Postanweisungen, sondern wollte die Briefe »nur« lesen. Verurteilt wurde er nicht, da ihn ein Psychiater für verhandlungsunfähig erklärt – »bipolar« , sozial gestört und abnormal waren die Attribute, mit denen er versehen wurde. Da begann also seine Strähne!

Sicher, er ist nicht verurteilt worden. Aber hätte jemand bei der Zulassung zum Studium nicht stutzen müssen und sich fragen, ob ein solcher Mann geeignet sei, den Arztberuf zu erlernen? Das passierte nicht und der junge Mann begann sein Medizin-Studium. Aber nicht lang, denn er meldete sich zur Armee, um im Ersten Weltkrieg gegen die Feinde Frankreichs zu kämpfen. 

Durch einen Granatsplitter am Fuß verwundet, kam in ein Hospital. Der Soldat wurde beschuldigt, Decken aus dem Krankenhaus stehlen. Damit wurde er ein Fall für die Militärjustiz. Irgendwer kam auf die Idee, Petiot auf seine geistige Gesundheit zu untersuchen. Wiederum waren die Experten der Meinung, dass der Mann nicht in seinem seelischen Gleichgewicht war (»neurasthenisch, geistig unausgeglichen, paranoid-depressiv und phobisch« waren eine Reihe von Attributen, mit denen man ihn beurteilte). Er wurde trotzdem zurück an die Front geschickt, erneut verwundet und als Invalide aus der Armee entlassen.

Aufgrund seines Kriegsinvalidenstatus bekam er eine Rente. Eine Kommission hatte über ihn zu urteilen und bescheinigte ihm eine vorzeitige Demenz. Als Veteran erlangte Petiot einen zügigeren Zugang zum Studium und schloss sein Medizin-Studium im Dezember 1921 ab. Ein Jahr später eröffnete er eine Praxis in Villeneuve-sur-Yonne und begann ein paar Jahre später seine kommunalpolitische Karriere.

Ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass es genug Zeichen gab, dass mit dem Mann etwas nicht in Ordnung war.

Eine lukrative Masche

Wenn man annimmt, dass sowohl seine Geliebte wie sein Dienstmädchen und die Molkereibesitzerin nicht durch seine Mitwirkung gestorben waren und er auch nichts damit zu tun hatte, dass die beiden Belastungszeugen gegen ihn verschwanden, dann ist das erste bekannte Opfer Petiots der Kürschner Joachim Guschinow. Dem ist aber nicht so.

Der Mann hatte ein Geschäft in der Nähe der Arztpraxis, sie waren Nachbarn. Petiot versprach, dass er Interessierte über eine geheime Fluchtlinie nach Argentinien schleusen könne. Dieser Service koste einiges an Geld. Der besagte Pelz-Fachmann soll in Diamanten bezahlt haben, die heute einen Wert von 300.000 Euro hätten. Das war im Jahre 1942 gewesen.

Sein üblicher Tarif waren 25.000 Francs. Anfangs konzentrierte er sich auf Alleinstehende, bevor er anfing, »Gruppen-Reisen« zu akquirieren und Familien auslöschte. Seine Opfer mussten aus Frankreich verschwinden: Oft waren es Juden, hinter denen die Gestapo hinterher war; es sollen aber auch Kriminelle darunter gewesen sein, die glaubten, das sei der Weg in einen Neuanfang.

Er suggerierte seinen Opfern, dass sie für die Einreise in das südamerikanische Land eine Impfung benötigen würden und verabreichte ihnen Cyanid. Die Entsorgung der Leichen erfolgte anfangs über die Seine, bevor verwendete er ungelöschten Kalk oder verbrannte die Toten.

Die Gestapo wurde auf ihn aufmerksam und vermutete ein Fluchtnetzwerk hinter ihm. Ein eingeschleuste Spitzel, Gefangener der Gestapo, wurde von dieser gezwungen, sich als Interessierter auszugeben. Er sollte eine ganz andere Reise antreten als gedacht. Leicht lässt sich vorstellen, dass die deutschen Polizisten im Anschluss skeptisch geworden waren. Sie verhafteten im April 1943 Petiot und verhörten ihn über seine Verbindung zum Widerstand. Zu solchen Verhören gehörte auch Folter, aber was sollte Petiot schon erzählen: Sein Fluchtnetzwerk hatte nichts mit dem Nazi-Widerstand zu tun. Es diente allein der persönlichen Bereicherung.

Kommissar Zufall

Nachbarn des Arztes beschwerten sich über üble Gerüche aus dem Haus Petiots und die Feuerwehr rückte an. Der vermeintliche Flucht-Experte war mit einer Arbeit nicht zu Ende gekommen und so wurden in dem Gebäude enthäutete Leichname gefunden, von denen einige am Verbrennen waren. Die unangenehmen Ausdünstungen waren damit plausibel erklärt.

Es gab verschiedene Versionen, wie Petiot entkommen konnte. Eine besagt, dass er zum Haus kam und erklärte, dass die aufgefundenen Toten alles Verräter, Kollaborateure und Deutsche wären – daraufhin wollte man ihn nicht verhaften, schließlich existierte für ein solches Vorgehen gewisse Sympathie in der Bevölkerung.

Die anderen Theorien klingen genauso verwegen. Fakt bleibt, dass Petiot entkommen konnte.

Später fand man dann die Hinterlassenschaften von den Ermordeten und die »noblen« Beweggründe erschienen nicht mehr glaubhaft.

Die Ermittlungen vonseiten der französischen Polizei wurden von Georges-Victor Massu geführt, einem bekannten Pariser Kommissar. Er hatte zu klären, um wen es sich bei Petiot handelt. Der Mann konnte für den Widerstand arbeiten oder für die Deutschen. Letztere meldeten sich schnell und warnten vor einem Wahnsinnigen namens Petiot. 

Im Laufe der Untersuchung fanden die Ermittler einen Zeugen, der seine Flucht mit Hilfe von Petiot geplant hatte – diese Option letztlich nicht wahrnahm. Er berichtete, welche Tarife der Arzt für seine Dienste verlangte. Bei einer genaueren Betrachtung seiner Räumlichkeiten fand man Überreste der beiden Belastungszeugen aus dem Drogen-Prozess. Der Bruder von Marcel Petiot – der neun Jahre jüngere Maurice – gestand, dass er ungelöschten Kalk geliefert hatte. 

Endspiel

Petiot versteckte sich, trat der Armee des Widerstandes bei und benutzte verschiedenste Decknamen und hatte verschiedene Funktionen inne. Als ein provozierender Artikel in einer Zeitung erschien, konnte er es nicht lassen und musste darauf antworten. Auf diese Art erfuhr die Polizei, dass er sich noch in oder in der Nähe von Paris aufhielt. Er wurde am 31. Oktober 1944 in Paris verhaftet.

Sein Prozess fand im März und April 1946 in Paris statt. Petiot schien das Verfahren locker zu nehmen, soll zeitweise geschlafen haben. Er nutzte die Gelegenheit, zu prahlen und mehr Morde zuzugeben, als ihm im Gerichtsverfahren zur Last gelegt wurden. Die Frage war: Handelte es sich bei Petiot um einen kranken Menschen oder war der Mann schuldfähig? Vielleicht spielte er auf die Verrückten-Karte. Die Gutachter in diesem Verfahren waren jedoch der Meinung, dass der Angeklagte die Verantwortung für seine Taten zu tragen hätte.

Ich habe das Urteil schon vorweggenommen, in dem ich schrieb, dass ihn seine Verbrechen den Kopf kosten würden. Petiot wartete in der Santé auf seine Exekutioin, vertrieb sich dabei die Zeit mit Lesen und Sticken. Außerdem schrieb er ein Buch über Glücksspiel. Es ist egal, was passiert – Hauptsache man beschäftigt sich.

Über den Erfolg seines Buches ist nichts bekannt. Am 25. Mai 1946 legte er seinen Kopf unter das Beil der Guillotine.

Seine Frau – ja, er war verheiratet! – beteuerte immer die Unschuld ihres Mannes. Nach ein paar Jahren wanderte sie nach Südamerika aus, was schon eine gewisse Ironie zeigt. Von dem Vermögen, das Petiot angehäuft haben muss – nach heutigen Maßstäben wird es von manchen auf etwa 30 Millionen Euro geschätzt – fand sich nichts. Sein Haus wurde verkauft und von den Käufern auf den Kopf gestellt, in der Hoffnung, dass Vermögen zu entdecken. Offenbar ohne Erfolg. Letztlich wurde es abgerissen, wer wollte schon in einem Leichenhaus wohnen.

Wäre die Affäre um die beiden Ärzte aus der Maigret-Geschichte in irgendeiner Art zu vergleichen mit dem Schrecken der Petiot-Affäre? Wohl kaum.