Heute ganz anders


Irgendwann, so fand Maigret heraus, hatte sich Louise Laboine auf den Weg in die »Pickwick's Bar« gemacht. Dieses Etablissement soll sich in der Rue de l’Étoile im 17. Arrondissement befunden haben und als Leser:in realisiert man schnell, dass das nicht der Ort war, an dem sich eine junge Frau nachts allein aufhalten sollte. Louise hatte das – aufgrund ihrer Not – nicht abgehalten.

Als typografisch interessierter Mensch fand ich die Beschreibung schön, dass sich über dem Eingang der Bar ein Schild befunden haben soll, auf der Name in »mehr oder weniger gotischen Buchstaben aufgemalt» war.

Pickwick's Bar

Interessanter ist die Beschreibung, die von der Umgebung gezeichnet wird:

Die Fassade zwischen einem Schusterladen und einer Wäscherei, in der man die Büglerinnen arbeiten sah, war so schmal, dass die meisten Leute daran vorbeigingen, ohne zu ahnen, dass es da eine Bar gab.

Mit den Schustern, das wird ein wenig später deutlich, scheint es Simenon in diesem Kapitel zu haben.

Die Straße liegt im 17. Arrondissement von Paris. Einen Steinwurf entfernt findet man den Arc de Triomphe de l’Étoile (der Triumphbogen) und den Champs-Élysées. Während der Norden des Bezirks durchaus von Arbeitern bewohnt wurde (und wird), war das südliche Quartier zum 8. und 16. Arrondissement hin ein sehr wohlhabender Bereich. 

In der Zeit, in der diese Geschichte spielt, war es ein wenig anders: Natürlich war dieses Viertel damals schon eine Ecke, indem man sich niederließ, wenn man gut betucht war. Die Mobilität war aber eine andere: Wollte man sich die Wäsche machen lassen, konnte man nicht einen aus den Vororten mit einem Lieferwagen kommen lassen, sondern es gehörte zu den Aufgaben des Personals, die Wäsche zu den Dienstleistern zu Fuß zu bringen. So waren in den Straßen auch Dienstleistungsbetriebe wie Wäschereien und Schuster zu finden.

Der Beruf der »Wäscherin« dürfte der Vergangenheit angehören. Wenn man etwas zu säubern hat, geht man in einer der chemischen Schnellreinigungen, die meistens in der Nähe größerer Straßen zu finden sind. Noch problematischer dürfte es sein, wenn man versucht, in der Gegend einen Schuster zu aufzutreiben, der sein Handwerk gelernt hat.

Käme Maigret heute in die Straße, dürfte diese viel weniger belebt sein, als es damals der Fall gewesen ist. Zumindest war das mein Eindruck, als wir dort waren.

Auf der anderen Seite

Für Louise hatte man Geld deponiert, allerdings war die recht stattliche Summe in New York für sie hinterlegt worden – bei einem Schuster. Die Beschreibung ist so konkret, dass man in die Versuchung kommen muss, nachzuschlagen, was sich denn dort befunden haben könnte. 

Ihr Vater hatte geschrieben:

Besorge Dir, sobald Du kannst, einen Pass für die Vereinigten Staaten. Brooklyn ist ein Vorort von New York, das hat man Dir vielleicht in der Schule beigebracht. Unter der unten angegebenen Adresse wirst Du einen kleinen polnischen Schneider finden, mit dem Namen …

Die Adresse wurde Maigret nicht aus den Brief zitiert, aber auf Nachfrage wird sie ihm genannt:

»Hast du dir die Adresse gemerkt?«
»Ja, 1214, 37. Straße.«

Was immer dort früher mal gewesen ist: An einen Laden erinnert heute überhaupt nichts mehr. Man kann es leicht überprüfen, ohne sich ein Flugticket nach New York kaufen zu müssen. Die 37. Straße beginnt an der Gowanus Bay und dem sich dort befindlichen South Brooklyn Marine Terminal, wird unterbrochen von einem großflächigen Gelände der New Yorker Verkehrsbetriebe (MTA), läuft entlang des Green-Wood Cemetery und endet an der Dahill Road.

Zur Dahill Road hin ist die Adresse 1214 zu finden und wer als Maigret-Enthusiast der Meinung ist, dass er sich das unbedingt einmal anschauen müsste, der wird fürchterlich enttäuscht sein.

Ein wenig enttäuscht kann man schon sein, wenn in dem Haus auf der rechten Seite einen Schuster erwartet.
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