Place de la concorde am 7. Februar 1934

Die Aufruhr


Konkrete Politik spielt im Werk von Simenon so gut wie keine Rolle. Politiker als Typus tauchen immer mal wieder auf, man weiß jedoch nicht, wofür sie stehen oder was sie politisch wollen – das spielt keine Rolle. Was zeichnet sie dann aus? Im Falle Maigrets geht es meist um einen Gefallen, der erledigt werden soll, oder um die Beruhigung der Öffentlichkeit, damit die Popularität der Regierung oder des Politikers nicht leidet.

Da man mit wenigen Ausnahmen nicht ermitteln kann, wann ein bestimmter Roman spielt, lassen sich schwer Rückschlüsse auf die jeweils Regierenden schließen. Die erste Untersuchung Maigrets stellt eine solche Ausnahme dar. Außerdem ist da die Tatsache, dass in späteren Romanen Computer erwähnt werden – auch das lässt gewisse Rückschlüsse zu.

Eine Ausnahme sind Maigrets Memoiren: In denen jongliert er nicht nur mit Jahreszahlen, sondern auch konkrete Ereignisse. Maigret erwähnt den »Aufruhr vom 6. Februar«, allerdings ohne die Jahreszahl zu nennen – diesen Aufruhr hat sich jedoch Simenon nicht ausgedacht, sondern Maigret geht damit auf ein ganz konkretes Ereignis ein, welches sich im Jahr 1934 ereignete – oder um es besser zu formulieren, eskalierte. Die Jahreszahl wurde wohl deshalb nicht genannt, weil Simenon davon ausging, dass dies zum Allgemeinwissen gehört. Mit dem Allgemeinwissen ist das jedoch so eine Sache: Während in den fünfziger Jahren in Frankreich wahrscheinlich noch sehr viele wissend genickt haben, wenn man den 6. Februar erwähnte, dürfte das heute ganz anders sein. Leser anderer Kulturkreise werden damit erst einmal ausgeschlossen. (Den Verlagen hätte es gut gestanden, wenn sie hier eine kleine Fußnote angebracht hätten.)

Unruhige Zeiten

​Frankreich litt noch unter der Weltwirtschaftskrise: Die Preise sanken, die Arbeitslosigkeit stieg, womit die Steuereinnahmen sanken und sozialpolitische Programme nicht so durchgeführt, wie man sie versprochen hatte. Man befand sich in der sogenannten 3. Republik und die Regierungen waren nicht stabil. Immerhin hatte man zwischen den Jahren 1932 bis 1934 sechs verschiedene Kabinette, deren oft eine stabile Mehrheit im Parlament fehlte.

In diese Situation hinein platzte die Stavisky-Affäre, die auch im Werk von Simenon Niederschlag fand. Er schrieb im Nachgang eine längere Reportage über die Vorgänge um die Machenschaften von Alexandre Stavisky. Insbesondere Politiker der Regierung wurden schnell in die Affäre hineingezogen. Während die Linken in der Regierung versuchten, der Affäre Herr zu werden; machten sich rechte und rechtsradikale Kreise daher, die Affäre auszuschlachten. In Frankreich existierte eine außerparlamentarische Opposition, die sich in Ligen organisierte. Finanziert wurden diese von recht unterschiedlichen Leuten – beispielsweise Pierre Taittinger, der sein Geld mit Champagner gemacht hatte; François Coty, einem Parfum-Hersteller und Zeitungsverleger und Ernest Mercier, der sein Geld im Öl-Geschäft verdiente. Eine bunte Mischung aus der Wirtschaft, die die Politik vor sich hertrieb und eine Bewegung, die den Ideen des italienischen Faschismus sehr nahe stand.

Der Antisemitismus der Faschisten in Italien war in Italien in den Anfangsjahren nicht so ausgeprägt, wie der der deutschen Nationalsozialisten – eine Wende gab es hier erst 1938 –, die französischen Rechtsradikalen betonten die jüdische Herkunft von Stavisky während der Affäre sehr und zeigte damit ihren Antisemitismus schon sehr früh.

Die Eskalation

​Im Januar riefen diese Ligen ihre Anhänger auf, gegen das in ihren Augen korrupte Regime zu demonstrieren. Die Demonstrationen waren vorher verboten worden, aber das interessierte die Ligen offenbar nicht. Mit »Nieder mit den Dieben«- und »Abgeordnete an die Laternen!«-Parolen marschierten sie auf den Grand Boulevards von Paris, wo es dann auch zu ersten Ausschreitungen kam.

Der im Ende Januar 1934 ins Amt gekommen Ministerpräsident Édouard Daladier knöpfte sich als erstes den Polizeipräfekten von Paris, Jean Chiappe, vor und entließ ihn aus dem Amt. Chiappe stand in dem Ruf, auf dem rechten Auge blind zu sein und dafür gegen linke Gruppierungen umso härter vorzugehen. Es half Chiappe in der Situation nicht mehr, dass er eine geplante Großdemonstration eines Veteranenverbandes für den Tag nach seiner Entlassung erfolgreich unterbunden hatte.

In der Stadt machten Gerüchte die Runde, dass von der Regierung Attentate geplant würden und die Regierung plane, dass Militär gegen die sich im Aufruhr befindende Stadt Paris einzusetzen. Die Ligen und Veteranenverbände setzen etwa 30.000 Mitglieder in Marsch, die am Abend des 6. Februar in den Straßen von Paris demonstrierten.

Es kam zu einer Straßenschlacht mit der Polizei, als die Demonstranten versuchten, eine Polizeisperre zu durchbrechen, um das Parlament zu stürmen. Die Polizei setzte Schusswaffen ein und ging mit einer Reiterstaffel gegen die Demonstranten vor. Diese warfen ihrerseits mit Steinen und verletzten die Polizeipferde.

Es war etwa fünf Stunden sehr, sehr unruhig auf den Straßen und diese Schlacht kostete 15 Demonstranten das Leben. Mehr als 2.000 Menschen wurden während der Unruhen verletzt. Auch am Folgetag gab es Demonstrationen, bei denen Tote zu beklagen waren.

Rutsch in die Mitte

Als es beim Aufruhr vom 6. Februar zu einem solchen gewalttätigen Ausbruch kam, wunderte ich mich vor allem über das Erstaunen, das die meisten Zeitungen am nächsten Tag bekundeten.

Dieses Erstaunen erstaunt immer wieder. Man möge einmal ein wenig die Augen öffnen, man stellt dieses – oft wahrscheinlich gespielte – Erstaunen auch heute immer wieder bei Medienleuten und Politikern fest. Da wird versucht »das Volk« aufzuwiegeln und gegen eine bestimmte Gruppierung oder Tatsache einzunehmen. Wenn dann jemand das Heft in die eigene Hand nimmt und irgendetwas abfackelt, jemanden umbringt oder in die Luft sprengt, stellen sich diese Herrschaften hin und sagen: »Was für ein Irrer!« und »Was haben wir denn mit den Taten dieser Leute zu tun.«

Wenn man in einer aufgeheizten Situation wie einer verbotenen Demonstration mit Parolen durch die Stadt rennt und das Aufhängen von Abgeordneten fordert, könnte man schon zu dem Schluss kommen, dass der Versuch des Stürmens eines Parlamentes nicht ganz friedlich enden wird. Aber der Champagner-Hersteller, Parfum-Hersteller und Öl-Magnat sind höchstwahrscheinlich nicht mitmarschiert und wenn, waren sie so clever, sich im Hintergrund zu halten.

Zu der damaligen Zeit wurden diese Unruhen als Putschversuch mit faschistischem Anstrich wahrgenommen. Es hat sich herausgestellt, dass man es so nicht einordnen kann, da die Aktionen der verschiedenen Gruppierungen nicht koordiniert genug waren.

Die Konsequenz war des Aufruhrs war, dass ein neues Kabinett unter einem neuen Premierminister gebildet wurde, welches wesentlich breiter aufgestellt worden war – das Linksbündnis war gescheitert.

Ruhe war aber noch lange noch nicht eingekehrt: Die extremen Flügel des Spektrums fingen an, sich zu bewaffnen – sie fühlten sich bedroht, jeweils von der anderen Seite. Die Mitte war geschwächt und die Krise zeigte auf, wie gespalten die Gesellschaft zu der Zeit war und welche macht die extremen Meinungen und Strömungen gewonnen hatten.

Diese Aspekte spielen indes in Maigrets Memoiren keine Rolle. Er betrachtet das aus einer anderen Perspektive: Da haben sich Leute zusammengerottet und randaliert – der Hintergrund der Unruhen wird mit keinem Wort erwähnt. In den Memoiren steht, dass am nächsten Tag Ruhe eingekehrt wäre, was nicht stimmt. Aber seine Schlussfolgerung ist völlig korrekt: Die Menschen, die randaliert hatten, sind immer noch da. Das bürgerliche Publikum war an dem Tag verschreckt und hatte sich gewundert, was für verlumpte Gestalten es gibt, und gefragt, warum dieses Volk ausgerechnet durch sein Viertel marschieren und randalieren musste. Nach dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn« ist danach die Welt wieder in Ordnung. Maigret jedoch weiß, dass der Mob aber noch da ist und nur wartet.