Sacré-Cœur de Montmartre

Der zweite Spaziergang


Wunderbar! Ich habe einen zweiten Spaziergang für euch. Also, wenn ihr mal in Paris seid, dann könnt ihr euch auf die Socken machen und es scheint mir so, als würde euch dieser Flaniervorschlag in deutlich touristische Gegenden führen, als der Erste es noch tat. Meine Empfehlung wäre auf jeden Fall, dass man bequeme Schuhe anzieht und sein Geld gut verstaut.

Die Maigrets starteten zu Hause. Madame streifte sogar ihre weißen Handschuhe über – angesichts der Tatsache, dass dieser Spaziergang im August stattfand, ist das eine gewisse Extravaganz. Damen in der Flaniergruppe dürften heute mit solch exaltierten Verhalten auch in Paris ein angemessenes Aufsehen erregen.

Die erste Etappe: Boulevard de Clichy

Maigret improvisierte nicht. Er hatte einen Plan und wusste genau, wo die Tour ihn hinführte. Seine Frau ließ er ahnungslos. Paare müssen schon so gestrickt sein: Ich bin mir sehr sicher, dass das nicht jede Partnerin und jeder Partner das mitmacht. Ich mache das aber auch sehr gern und meine Frau lässt sich darauf ein. Kritisch ist dabei die Frage die Angemessenheit der Kleidung und des Schuhwerks. 

Er hatte sich ein – im Roman namenloses – italienisches Restaurant am Boulevard de Clichy ausgesucht, an dem er schon diverse Male entlang spaziert war. Maigret kannte die Lokalität nicht, er hatte sich nur gedacht, dass es ganz nett sein müsste. Der nun urlaubende Kommissar hatte sich beim Vorgehen immer vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn man in dem Restaurant Spaghetti essen würde. Nun hatte er die Gelegenheit!

In der Geschichte wird nicht verraten, ob die beiden Herrschaften vom Boulevard Richard-Lenoir zum Clichy-Boulevard mit dem Bus, Taxi oder zu Fuß gelangten. Nehmen wir an, dass sie gegangen waren. In dem Fall wären sie etwa vier Kilometer marschiert. Das kann man »locker« in einer Stunde absolvieren, wenn man nicht an jedem Schaufenster stehen bleibt.

Die zweite Etappe: Place du Tertre

Hat man sich den Magen mit leckerem italienischen Essen vollgeschlagen, ist es keine schlechte Idee, diese wieder abzulaufen. Wie ich genussorientierte Paris-Besucher kenne, wird es nicht bei den Spaghetti bleiben. Zugestehen will ich, dass man vielleicht mit dem Vorsatz in das Restaurant ging, nur eine leichte Kost zu sich zu nehmen. Dann knabberte man ein wenig am Brot, lässt sich eine Suppe und ein paar Spaghetti kommen. Alles noch im Rahmen. Aber wenn der Wirt zum Ende hin eine Tiramisu offeriert, kann man nicht »Nein« sagen – und auch wenn es sprichwörtlich heißt, dass man dann den »Salat hat«, so kann in diesem Fall davon nicht die Rede sein. Der Begriff »dann rollte man hinaus« trifft es viel mehr.

An der Stelle soll nicht vergessen werden: Maigret ist Franzose. Also wird er als Begleiter für sein Essen nicht eine Limonade und stilles Wasser gewählt haben.

Rauf auf den Montmartre zu klettern, erscheint in dieser Situation genau das Richtige. Madame Maigret war übrigens nicht in der besten Form. Das ist zumindest der Beschreibung zu entnehmen, dass sie immer wieder stehen bleiben würde und verschnaufen müsste. Der Weg führte die beiden (und damit auch euch) durch die Rue Lepic, der wir so manche Krimi-Leiche verdanken.

Das Ziel dieser Etappe ist ein kleiner Platz mit dem Namen Place du Tertre. Hier ließen sich Madame Maigret und ihr Mann in einem Café nieder. Gemütlich lasen sie die Abendzeitung (die schon immer nach dem Mittagessen kam) und hörten der Diskussion über den berüchtigten Jave-Fall, den ein Pärchen am Nachbartisch führte, zu. 

Vom Boulevard hoch zu dem Platz sind es auf direkter Route etwa 600 Meter. Das ist nicht sie Welt, wenn da nicht die siebzig Meter Höhenunterschied wären. Einen Alpinisten versetzt das nicht in Wallung, wenn man aus einem italienischen Restaurant kommt und von einer Tiramisu und Rotwein begleitet wird, sieht das gewiss anders aus.

Aber in dem Café lassen es sich die beiden Urlauber auch nicht schlecht gehen.

Die dritte Etappe: Place Saint-Pierre

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Kommt man mit dem Flugzeug nach Paris und landet man in Charles-de-Gaulle, wählt dann die RER als Transportmittel in die Stadt, so erhascht man kurz vor dem Gare du Nord einen Blick auf die Sacré-Cœur de Montmartre. Das ist der Moment, in dem ich immer dachte: »Jetzt bin ich in Paris! Toll!« Diesen kurzen Augenblick genieße ich jedes Mal. Fragt man mich, ob ich jemals in der Basilika war, müsste ich jedoch antworten: »Ich weiß es nicht genau!« Ich mag es, Kirchen zu besuchen; meine Begeisterung für lange Schlangen, um irgendwo hineinzukommen, hält sich indes sehr in Grenzen. Lange Schlangen, das weiß ich genau, habe ich aber dort oben immer gesehen.

Bis zu einer Bemerkung in »Maigret amüsiert sich« hatte ich keinen Anlass gesehen, mich mit der Kirche und seiner Umgebung näher zu befassen. Sie ist da, sie ist schön – das reicht schon. Aber dann kam der Satz:

»Lass uns erst einmal die Treppe von Saint-Pierre hinuntersteigen.«

Da musste ich schauen, was es denn mit dieser Treppe, die den Namen »Saint-Pierre« trug, auf sich hatte.

Man wundert sich, zu welchen Themen es im Internet ausführliche Seiten gibt! Oder eigentlich auch nicht. Nachdem ich die Karten-Programme im Internet befragt hatte, was es mit dieser Treppe auf sich haben konnte und ich nichts gefunden habe, suchte ich gezielter nach Treppen im Internet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es keine Treppe mit diesem Namen gibt. Die hat sich Simenon ausgedacht. 

Aber ich bin über einen schönen Artikel gestolpert, der sich nur mit Treppen in Paris befasst. Gerne können geneigte Leser:innen nachschauen, aber eine Treppe mit dem Namen »Saint-Pierre« wird auf der Seite nicht gelistet und, ganz ehrlich, in dem Beitrag werden Treppen aufgeführt, die würde ich noch nicht einmal als Treppe ansehen.

Von der Brücke über eine Straße mitten in einem Wohngebiet, die ich in der Spurenbeschreibung der jungen Toten erwähnte, gibt es auf der erwähnten Webseite leider keine Bilder, aber ich habe sie auf diese Art und Weise wieder gefunden. Es geht um die Rue de Madrid/Rue Portalis, die von der Rue du Rocher überquert wird. Ich finde das immer noch faszinierend und auch wenn es nicht zu diesem Spaziergang passt, sollte man bei einem Paris-Besuch sich diese merkwürdige Konstellation anschauen. Vielleicht reicht es, wenn man sie sich auf Google Streetmaps zu Gemüte führt. Für keine der eben erwähnten Straßen habe ich bisher eine Erwähnung in Simenons Werk notiert, aber das kann noch kommen.

Nun bin ich ein wenig vom Thema abgekommen, denn es ging um die Treppe, die nicht existiert. Es gibt eine Reihe von Auf- und Abstiegen, die zur Sacré-Cœur führen (und halt auch wieder weg), ein solcher Name wird jedoch nicht notiert. Das nehme ich hin und denke, wenn die beiden durch die Stadt spazieren, so werden sie über die Rue du Cardinal Dubois gegangen sein, kurz einen Blick auf Paris geworfen haben – Ihr müsstet allerdings einige Touristen beiseite schubsen, um einen schönen Blick zu erhaschen – und sie werden dann über den Square Louise Michel zum Place Saint-Pierre hinabgestiegen sein.

Dann kann man einen Blick zurück riskieren, die Pracht der Kirche bewundern und einfach begeistert sein.

Sacré-Cœur de Montmartre

Da ich mich bisher nicht mit der Kirche beschäftigt habe, bin ich davon ausgegangen, dass dieses Gotteshaus schon ganz betagt ist. Hättet ihr die Gelegenheit, mir jetzt auf den Mund zu schauen, wie ich das schreibe, so würdet ihr bemerken, dass ich die A's sehr gedehnte habe, um zu betonen, wie alt ich die Kirche geschätzt hätte. Als ich las, dass sie erst vor etwa hundert Jahren eröffnet wurde, war ich baff gewesen. Die ist ein ganz junges Ding!

Nun gibt es Kirchen, die sind noch nicht so lange in Betrieb und an denen immer noch gebaut wird – man denke an die Sagrada Família in Barcelona. Aber die Sacré-Cœur wurde fix für einen Kirchenbau dieser Größenordnung erbaut. Mit dem Arbeiten begann man im Jahre 1875. Unumstritten war das Projekt nicht. Die Gegend um den Montmartre galt nicht als besonders religiös und gewisse Herrschaften hatten sich in den Kopf gesetzt, mit diesem Prachtbau etwas für die Religiosität der Bewohner von Montmartre zu tun und gleichzeitig die französische Seele zu heilen: Man hatte schließlich nicht nur einen Krieg gegen Deutschland verloren, die Monarchie war auch vergangen. Die katholische Kirche in Frankreich war seit jeher konservativ und so setzte das einen Kontrapunkt gegen die einsetzenden Umwälzungen in der französischen Gesellschaft.

Dieser Bau war ein nationales Projekt und so wurde das Projekt vom Staat unterstützt. Nicht lange nach dem Startschuss, 1882, gab es die ersten Bestrebungen, die staatliche Unterstützung zu streichen. Das französische Parlament fasste entsprechende Beschlüsse, aber es schien so, als würde der Entzug der staatlichen Unterstützung teurer kommen als der Ausstieg. 

Dieses Phänomen kann man heute noch beobachten: Man denke an den Berliner Flughafen oder die Elbphilharmonie. Irgendwann heißt es nur noch »Augen zu und durch«. Wie das bei unserem Hauptstadt-Flughafen ausgeht, wissen wir nicht – beim Hamburger Konzerthaus redet heute keiner mehr über die Baukosten und wenn, dann wird darauf verwiesen, dass es gut war, durchzuhalten.

Sacré-Cœur de Montmartre hatte dieses Unterstützer-Glück nicht. Mit der Trennung von Kirche und Staat im Jahre 1905 wurde der Geldhahn komplett zugedreht und die Kirchenleute und Unterstützer mussten zusehen, wie sie die Finanzierung stemmten. Das katholische Bauwerk wurde 1914 fertiggestellt, der Erste Weltkrieg kam der Weihe aber dazwischen. Diese wurde 1919 vollzogen.

Von dieser abenteuerlichen Geschichte wusste ich jahrelang überhaupt nichts. Beim nächsten Mal werde ich der Kirche eine etwas andere Aufmerksamkeit schenken.

Die vierte Etappe: Grand Boulevards

Der Spaziergang beginnt am Ende des zweiten Kapitel, zieht sich durch das dritte Kapitel und wird im vierten Kapitel fortgesetzt. Am Ende was das Paar auf dem Place des Victoires gelandet, aber zu Hause waren die beiden damit nicht. Das war also ein netter zehn-Kilometer-Spaziergang, über den Daumen gepeilt, den die beiden Herrschaften absolviert hatten.

Wie nimmt uns Simenon auf diesen Weg mit? Am Fuße von Sacré-Cœur auf dem Place Saint-Pierre stehend, wandten sich die Maigrets in Richtung Boulevard de Rochechouart. An der Kreuzung, an der man die Metro-Station »Anvers« findet, hat man gegenüber einen kleinen Platz mit einem Pavillon. Nun waren sie nach ihrer längeren Pause auf dem Berg noch nicht lang unterwegs, um erneut eine Pause eine zulegen. Aber als Tourist:in findet man vielleicht ein wenig Ruhe, nachdem man den Touristenmassen entkommen ist. 

Die Maigrets gingen den Boulevard entlang, bevor sie in die Rue des Martyrs einschwenkten, die der Kommissar auf Urlaub schätze. Er mochte die Lebhaftigkeit und die Wuseligkeit der Straße.

Unsereiner hätte, bevor wir zum Ende dieser Etappe kommen, noch zwei Hinweise zu geben. Zum einen kommen wir an das Kirche Notre-Dame-de-Lorette und der gleichnamigen Straße vorbei, in der der Tatort eines einem anderen Falls zu finden ist. Zum anderen würde ich als Tourgänger nicht die ganze Zeit dem offensichtlichen Weg folgen, sondern hier einen kleinen Abständen in die Passagen machen. Auf dem Weg liegen sowohl die Passage Verdeau wie auch die Passage Jouffroy. Beide sind schon »steinalt« und auf jeden Fall sehenswert.

Die beiden Quasi-Touristen kamen an die Gand Boulevards – aber es wird in der Geschichte nicht verraten, in welche Richtung sie sich von dort bewegten. Theoretisch hätte es zum Boulevard Haussmann gehen können, aber an Stelle von Madame Maigret würde ich intervenieren, wenn sie ihr Mann erneut in Richtung Tatort geschleppt hätte. Bliebe die andere Richtung – Boulevard Poissonnière oder Boulevard de Bonne-Nouvelle (beides Boulevards, die es bisher nicht zu einem Eintrag im Simenon-Register gebracht haben). Wohin sie gingen, war letztlich egal. Es war siebzehn Uhr und sie kamen auf die Idee, ein Kino zu besuchen und genossen ein Programm aus Wochenschauen und Chaplin-Filmen. Als die das Filmtheater verließen, war es schon dunkel.

Die fünfte Etappe: Place des Victoires

Ein paar Stunden waren die beiden schon unterwegs. Ob es Popcorn im Kino gab, wurde nicht verraten. Als sie das Kino verließen, knurrten wohl ihre Mägen. Als sie nun entdeckten, dass es schon dunkel war und es für Kochen zu spät war, schlug Maigret vor, man könne Essen gehen. Madame Maigret war einverstanden und sie spazierten zum Place des Victoires, wo sie ein nettes Restaurant fanden.