Illustration des Hôtel du Chemin de Fer

Die Bahnhofshotels


Ein Hotel an einem Bahnhof zu eröffnen, es sei denn, es handelt sich um einen kleinen Weiler, war immer eine gute Idee. Mit der Namensgebung mussten sich die Hoteliers nicht anstrengen. Viele nannten ihre Etablissements »Hotel zur Eisenbahn« oder in Frankreich »Hôtel du Chemin de Fer« – in zahlreichen Variationen. Die Gäste wussten intuitiv, wo sie ihre Bleibe zu suchen hatten.

In großen Städten wie Paris, London oder Berlin war und ist es empfehlenswert, ein wenig spezifischer zu sein. In Lüttich schien das offenbar nicht notwendig zu sein.

Als Maigret versuchte, zu ergründen, warum sich Louis Jeunet umgebracht hatte, stieß er in Bremen auf den Geschäftsmann van Damme. An den Aspekten des Falls war einiges komisch, im Sinne von merkwürdig. Nicht so verdächtig, dass man dafür durch mehrere Länder reisen müsste. Das Verhalten dieses Typen jedoch, sein ständiges Auftauchen, dieses Anbiedern – das war Maigret suspekt.

Nach einem Vorfall auf der gemeinsamen Rückfahrt der beiden von Reims nach Paris stand van Damme im Fokus der Ermittlungen. Als der Kommissar erfuhr, dass der Mann nach Lüttich fuhr, machte er sich auch gleich auf die Socken. Im Nachtzug ging es nach Belgien.

Wer es noch nicht gelesen hat, das lief so ab: Maigret fährt mit dem Taxi zum Bahnhof, Schnitt, Maigret kommt aus dem Hotel.

In Lüttich

Was wir zuvor erfahren haben, war, dass dieser Nachtzug am nächsten Morgen um sechs Uhr in der ostbelgischen Stadt war. Maigret nahm sich ein Zimmer in dem Hotel. Schlafen lohnte nicht mehr, er wollte sich nur frisch machen. Dabei könnte ich mir vorstellen, dass wir auch etwas über die Vorlieben des Kommissars erfahren:

Um acht Uhr morgens verließ er das »Hôtel du Chemin de Fer« gegenüber vom Bahnhof Lüttich-Guillemins. [...]
Gare des Guillemins (etwa 1916 – Lizenz: Public Domain)
[...] Er hatte ein Bad genommen, sich rasiert, [...]

Der Kommissar war ein Bader. Sehr sympathisch.

Aus dem Zug ist er in das Hotel gefallen. Mich hat natürlich interessiert, ob es die Unterkunft gegeben hat. Die Wahrscheinlichkeit war groß. Es galt jedoch, Gewissheit zu erlangen.

Eine Postkarte würde schon helfen … et voilà: 

»Hôtel du Chemin de Fer« in Lütich um 1910 (Public Domain)

Schön, dass das Hotel mit elektrischem Licht warb. Aber das war vor dem Ersten Weltkrieg vielleicht auch noch etwas besonderes. Hat man sich selbst in der Zeit (und in seinen Gedanken) zurückkatapultiert in die Zeit, wird klar, warum eine Zentralheizung als Werbeargument verwendet wurde.

Wie es sich für ein Bahnhofshotel gehört, war es für Reisende offen, die in der Nacht kamen. 

Klein war das Hotel auf keinen Fall und als Absteige würde man es nicht betrachten. Ein weiteres Bild zeigt, wie Maigret – der während dieses Lüttich-Aufenthalts das Hotel nicht mehr wechselte – das Hotel gesehen hätte.

»Hôtel du Chemin de Fer« in Lütich (undatiert – Public Domain)

Hier ist auch zu erkennen, dass in den Jahren das Hotel aufgestockt worden war. Das Quartier hatte zu der Zeit einhundert Zimmer – die Fassade dürfte also täuschen. Es musste weitere Flügel nach hinten gegeben haben.

In ihm fand sich eine Gaststätte – das Marketing bezeichnete es als »Restaurant réputé« – und Maigret nahm dort zumindest eine Mittagsmahlzeit ein.

Auf der anderen Seite

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»Hôtel du Chemin de Fer« am Gare de Londoz in Lüttich in der Rue Lobotte

Credits: Public Domain

Auf der anderen Seite der Maas im Lütticher Stadtviertel Longdoz gab es übrigens auch ein Hotel, dass diesen Namen trug. Das lag daran, dass auch dort einen Bahnhof existierte: Lüttich-Longdoz. 

Wie anfangs erwähnt, kann so ein generisch gewählter Name ziemlich irritierend für Touristen sein. Im Lütticher Stadtgebiet gibt es sieben Bahnhöfe. Das klingt viel, aber es gab früher noch andere (»mehr« sollte nicht behauptet, da nicht alle Stationen zur gleichen Zeit aktiv gewesen sein müssen – zählte man diese dazu, dann würde hier die stolze Zahl von neunzehn stehen).

Das kleine Bahnhofshotel am Londozer Haltepunkt dürfte aber spätestens 1960 seine Bedeutung als solches verloren haben, denn da wurde der Bahnhof geschlossen. In der Straße gibt es ein Gebäude, welches dem abgebildeten ähnelt. Da es nicht identisch ist, ist es wahrscheinlicher, dass die Bebauung zu der Zeit mit Häusern des gleichen Stils erfolgte. Von den anderen ist heute in der Straße aber nichts mehr zu sehen. Interessierte können sich in der Rue Labotte, in der das Hotel zu finden war, gern selbst vergewissern.

Gare de Londoz (Lizenz: Public Domain)

In Fécamp

Dafür das Hotels mit diesem Namen gängig waren, tauchen sie zumindest in den Maigret-Romanen eher selten auf. Mir ist nur eine weitere Stelle untergekommen – im Roman »Maigret und Pietr der Lette«. Dort ging es um eine Frau namens Berthe Swaan, die das Glück hatte, als Kassiererin in dem »Hôtel du Chemin de Fer« einen reichen Fremden kennenzulernen, der sie dann heiratete. So führte der Weg sie von der Kasse einer Herberge in eine Villa am Meer. 

Einen Beleg für die Existenz gibt es auch hierfür – den Briefkopf vom Hotel-Briefpapier. Die Telefonnummer ist ebenfalls notiert, ein Anruf für eine Reservierung in dem Hotel an diesem reizenden Ort lohnt jedoch nicht mehr:

Stutzig macht die Adresse. »Quai« assoziiert man mit Wasser. Schaut man sich diesen Ort auf der Karte an, dann könnte die Idee aufkeimen, dass das nur eine Post-Adresse ist. Das Hotel gab es jedoch schon eine ganze Weile. Ich fand in Zeitungen aus dem Jahr 1889 Anzeigen für diese Unterkunft. Die Adresse war die gleiche – der Blick ging auf ein Hafen-Becken.

Erst wenn die geneigten Karten-Betrachter:innen ein wenig aus der Karte herauszoomen, wird klar, wie wenig fantastisch der Name des Hotels war. Denn der Bahnhof von Fécamp lag an eben diesem Hafenbecken, gar nicht mal so weit entfernt.

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Eine Vorstellung, die ich gehabt habe, muss ich – wie es umgangssprachlich heißt – in die Mülltonne kloppen: Berthe saß in dem Restaurant, was übrigens gutbürgerliche Küche servierte, an der Kasse. Es war nicht viel los und sie schaute auf Bahnhof, um zu sehen, ob weitere Gäste kommen. Mehr Betrieb wäre schön, da sich das auch auf ihr Trinkgeld auswirkte. Da gab es einen Knall und kurze Zeit darauf war der Bahnhof nur noch Schutt und Asche.

Wie ich zu dieser Vorstellung komme? 

Ausschnitt aus einer Meldung in der Zeitung »Excelsior« vom 11. Juni 1921 (Credits: Public Domain)

Unprofessionelle Übersetzung der eigentlichen Meldung:

Ein Güterzug aus Sotteville-les-Rouen mit 36 Waggons ist mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde in den Bahnhof von Fécamp eingefahren. Dabei passierte der Zug den Bahnhof und kollidierte mit einer angehängten Lokomotive. Ein Lokführer wurde getötet, ein Heizer verletzt und mehrere Mitglieder des Teams erlitten Prellungen.

Eine Nebenbemerkung: Ein gutes Beispiel dafür, dass man das Geschehene mit seiner Übersetzung vergleichen wollte. »Brûlant la station« lässt sich durchaus mit »Niederbrennen des Bahnhofs« übersetzen. Allerdings hätte solch ein Vorfall ein größeres Medien-Echo hervorgerufen, was nicht zu verzeichnen war.

Die Kassiererin hätte nur schwer das Geschehen direkt beobachten können. Nachdem es passiert war, hätte Berthe aber vor die Türe gehen können, um zu schauen, was sich für ein Unglück ereignet hatte.

Pure Spekulation und Fantasie.

Aber: Irgendwie niedergebrannt ist der Bahnhof dann doch noch. Aber dafür haben Deutsche gesorgt, die Bomben auf das Gebäude warfen. Das ist ein wenig bedauerlich, denn das, was später als Bahnhofsgebäude gebaut wurde und heute dort steht, ist nicht völlig hässlich, aber auf jeden Fall weniger repräsentativ:

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Wie zuvor schon geschrieben, lohnt es nicht, die Telefonnummer anzurufen. Nicht nur, weil die Nummer nicht erreichbar ist, sondern auch weil das Hotel vermutlich abgerissen wurde und auch an anderer Stelle keine Wiedereröffnung erfuhr. Zwar habe ich noch die Annonce gefunden, die nach 2006 veröffentlich wurde (das besagt das Copyright der Webseite) – das gibt einen Hinweis, wann der Umbruch geschah.

Die Gebäude, die nun dort stehen, samt der in ihnen installierte Gewerbe haben nichts mehr mit dem Hotel-Geschäft zu tun.

Zurück nach Lüttich

Ein Besuch des Bahnhofshotels in Fécamp ist nicht mehr drin. Stellt sich die Frage, ob das in Lüttich noch möglich ist.

Bei der Inspektion der Umgebung des Bahnhofs fiel mir ein Gebäude ins Auge, dass so aussah wie das auf den Postkarten. An diesem Haus war eine Beschriftung zu erkennen, dass es sich um die Unterkunft handeln würde – der Name der Unterkunft: »Hôtel de la Couronne«. Auf deren Webseite gab es eine Auflösung, denn dort war zu lesen, dass das Hotel ursprünglich Hotel Wiser hieß (was die Telegrafen-Adresse auf der zuvor abgebildeten Postkarte erklärt), bevor es in »Hôtel du Chemin de Fer« umbenannt wurde. Klar, dass Simenon und Gehängten-Roman ebenfalls erwähnt wird. 

Maigret-Enthusiast:innen, die sich dort einmieten, schlafen damit in einem Hotel, in dem Präsident Mitterand übernachtet hat – wenn man ehrlich ist, war das fünf Jahre vor seiner Präsidentschaft. Aber ein bedeutender Mann war er schon und das Hotel galt als eines der besten in Lüttich.

In den 1990er-Jahren musste das Hotel schließen, da es Probleme mit der Hygiene gab. Die Besitzer wechselten und es erfolgte eine gründliche Renovierung. 2006 wurde es wieder eröffnet und ist heute ein Drei-Sterne-Hotel mit 77 Zimmern.