
Bildnachweis: Maigret an einem Ufer - Leonardo AI
An falschen Ufern
»Moment, wo bin ich denn gerade?« Das kam mir bei dieser kleinen Affäre in den Sinn und unweigerlich auch die Frage, ob ich falsch liege, Simenon oder der Übersetzer. Aufgrund einer angeborenen Macke habe ich sehr ungern Unrecht, was aber nicht bedeutet, dass, wenn ich mich bestätigt sehe, ich unbedingt die Hände wie bei einem Sieg hochreiße. Diesmal geht es um Flüsse.
Ein kurzer Blick auf die Szenerie: Maigret hatte in Reims Joseph van Damme getroffen – mal wieder! – und einer der beiden erklärte, dass er nach Paris müsse. Maigret hatte dort sein zu Hause und sein Büro, der musste sowieso. Van Damme musste aber auch und erklärte, dass er den Kommissar mitnehmen würde.
Kurzerhand mietete er einen Wagen samt Chauffeur und los ging's. Irgendwann, und das konnte übrigens nicht geplant gewesen sein, gab es eine Reifenpanne und damit auch einen Zwangsstopp. Während der Fahrer damit beschäftigt war, den Wagen wieder flottzubekommen, gingen die beiden Chauffierten in Richtung Fluss.
Die Situation wird von Simenon wie folgt geschildert:
Sie gingen erst ein paar Schritte die Straße entlang, dann sahen sie einen kleinen Weg, an dessen Ende ein Fluss rasch dahinfloss.
»Ah, die Marne!«, rief Van Damme aus. »Die führt Hochwasser.«
Diese Schilderung passt vollkommen. Gleichzeitig wird kurz darauf erwähnt, dass in der Nähe die Schleuse von Luzancy liegt und wenn Interessierte sich dann auf der Karte anschauen, sieht das sehr stimmig aus.
Irgendwie hatte Maigret damit gerechnet, zumindest war er nicht überrascht, als ihn Van Damme einem Schubs in Richtung des Hochwassers verpasst hatte. Wir wissen nicht, ob unser aller Lieblingskommissar ein guter Schwimmer gewesen war. Insgeheim würde ich davon ausgehen, dass er gemischte Gefühle hatte. Mir ist keine Schilderung im Kopf, dass Wasser sein Metier gewesen wäre und er sich wie ein Seehund (oder eher Seelöwe) darin bewegt hätte. Andererseits war er Angler, der auch mit dem Boot hinausfuhr, da wäre es waghalsig, nicht mit gekonnten Bewegungen das Ufer zu erreichen.
Aber egal wie es um die Schwimmfähigkeiten von Maigret bestellt war, im Hochwasser sieht alles ein wenig anders aus. Und helfen tut einem das auch nicht, denn donnert einem Treibgut gegen den Kopf und man wird bewusstlos, könnte man Olympiasieger im Schwimmen sein und würde trotzdem umkommen.
Also: Maigret hatte riesiges Glück, dass er nicht im tiefen Wasser landete und sich nur die Beine ein wenig nasse gemacht hatte. Das Verhältnis zu Van Damme veränderte sich innerhalb weniger Augenblicke – er war ein Feind und wurde von dem Polizisten wie ein Verbrecher behandelt.
Kurz darauf – im gleichen Kapitel – ist ein weiteres Mal die Rede davon, dass es die Marne war, in die der Geschäftsmann den Ermittler schubsen wollte. Also eine ganz klare Sache.
Zwei Kapitel später schreibt Maigret Lucas einen Brief. Das war eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass ihm in Lüttich ein Unglück widerfahren sollte. Dabei erwähnt er in einem Punkt:
Als ich in Begleitung von Van Damme nach Paris unterwegs bin, versucht jener, mich in die Maas zu stoßen.
Die erste Frage, die sich mir stellte, war: Hatte Van Damme das gleiche Ding auch in Lüttich abgezogen? Und wunderte mich, dass mir das gar nicht aufgefallen war. Natürlich hatte er das nicht: Bis dahin war er bei dem Aufeinandertreffen in der belgischen Stadt brav gewesen. Also konnte nur das Zusammentreffen in Luzancy gemeint sein, denn von der Maas ist dieser Ort zwischen 200 und 300 Kilometer Luftlinie entfernt. Und die Maas macht auch überhaupt keine Anstalten, in Richtung Île-de-France zu fließen, sondern bewegt sich so geradlinig wie ein Fluss nur sein kann in den Norden (sprich: über Givet, Namur, Lüttich und Maastricht floss der Strom Richtung Nordsee).
Nun kennen wir den Verlauf der Maas. Sie kann es nicht gewesen sein, in die der Kommissar geschubst werden sollte. Deshalb folgte ein Blick in das Original für eine letzte Bestätigung und dort stand:
Comme je rentre à Paris en compagnie de Van Damme, il tente de me pousser dans la Marne.
In älteren Übersetzungen, die ich mir angeschaut habe, ist ebenfalls von der Marne die Rede.