Loing

An der Loing


Die Geschichte vom »Würger von Moret« ist keine Maigret-Geschichte. Trotzdem erfuhr ich über das Städtchen Moret, in dem sich das Drama abspielte, während meiner Recherchen viel. Am Ende des Tages war ich so weit, dass ich dort hinwollte. Das hatte dieses Jahr geklappt und so hockten wir am Ufer der Loing, welches oft Motiv von Alfred Sisley war, und tranken unsere Bierchen.

Ist man auf Spurensuche anhand von dem, was Simenon geschrieben hat, so ist Enttäuschung angesagt. Die Herbergen, die beschrieben wurden, waren wahrscheinlich nie existent und es hat sich niemand die Mühe gemacht, die reizvolle Konstellation nachzustellen. Es gab ja noch die Fläche, die Émile absuchen sollte, und ich wollte auch dieses Fleckchen Erde besichtigen. Aber da, wo ich es vermutete, übte man sich gerade in den Vorbereitungen für eine Veranstaltung. Ein Einlass wurde mir verwehrt, bei einem zweiten Versuch war der Bereich komplett verschlossen.

Das macht Moret jedoch nicht weniger reizvoll. Es ist ganz und gar entzückend. Nicht zu groß, nicht zu klein. Wer Lust hat, kann von der Stadt aus einen Spaziergang zur Loing-Mündung vornehmen und wer ein Faible für Boote und Hausboote hat, wird dabei ganz auf seine Kosten kommen.

Als ich die Reise plante, interessierten mich in erster Linie drei Dinge: das Städtchen, der Fluss und das Schloss Fontainebleau. Das prächtige Gebäude und den Wald wollte ich lange Zeit schon besuchen. Ersteres, weil es in den Neunzigern das Cover eines Baedekers zierte. Letzteren, weil er hin und wieder in Simenons Geschichten erwähnt wurde. Gewiss ließe sich Fontainebleau auch bei einem Paris-Besuch auf den Plan setzen, aber für meinen Geschmack ist es zu weit entfernt. Wir besuchten Fontainebleau in der Nebensaison, nach dem Ferienende der Franzosen, und ich war erstaunt, wie wenig Menschen eine solche Top-Sehenswürdigkeit besichtigen.

Noch weniger war am und im Schloss Château de Vaux-le-Vicomte unweit von Melun los. Meine Frau hatte mich gefragt, was denn in der Stadt zu finden sei – also mit Beziehung zu Simenon – und ich habe antworten müssen, dass ich außer zwei Gefangenen aus »Maigrets Nacht an der Kreuzung« nichts bieten könne. Das Schloss von Nicolas Fouquet ist aber in der Nähe und ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass uns die Audio-Führung durch dieses Schloss besonders gefallen hat. Nicht nur, dass es erstklassig inszeniert war – auch in deutscher Sprache – sondern das Kopfhörer-Equipment war derart edel, dass die Darstellung räumlich wirkte. 

Am Wochenende mag es anders aussehen, da Schauspieler in Kostümen die Anlage bevölkern und am Abend mit spezieller Beleuchtung gearbeitet wird. Das Spektakel könnte die Angelegenheit authentischer machen, aber in erster Linie macht es den Eintritt teurer. Wer das Wahrhaftige erwartet, könnte enttäuscht werden – viele ausgestellte Exponate sind Nachbauten.  Zumindest unserem Vergnügen tat das kein Abbruch.

Zurück zu Melun: Die Stadt liegt an der Seine. Durchfährt man sie, wie es unser Navigationssystem empfahl, gibt es einen kleinen Moment, in dem man sich an Paris erinnert fühlt. In der Mitte des Flusses befindet sich eine Insel. Über die Brücken muss man, wenn man die Stadt passiert. Zur Feierabendzeit ist der Verkehr in Melun genauso erfrischend wie in Paris. Also, wenn es sich vermeiden lässt, sollte die Stadt umfahren werden.

Wer es ruhig mag, hat mit Moret-sur-Loing den idealen Ausgangspunkt, um schöne Ausflüge zu starten. Ist man in der Nähe, lohnt sich der Ort, um einen Nachmittag ganz entspannt zu verbringen.

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In Moret ist die Sache schon gelaufen. In der Stadt mündet der Canal du Loing wieder in die Loing oder – wie Kartographen es sehen – die Loing in den Kanal. Das mag daran liegen, dass es zur Seine hin noch eine Schleuse gab, die heute aber nicht mehr betrieben wird. Als unbefangener Besucher dachte ich mir, dass es den Kanal ohne den Fluss nicht geben würden und man dem Fluss auf seinen letzten Metern seine Würde wiedergeben sollte. Aber das ist vermutlich sowohl dem Fluss wie der zuständigen Behörde recht egal.

Folgt man der Loing flussaufwärts, stellt man fest, dass es ein wildes Gewässer ist. Mal verläuft der Fluss links des Kanals, mal rechts. Während der Kanal schnurgerade verläuft und an Disziplin nichts zu wünschen übrig lässt, macht der Fluss deutlich, warum er nicht schiffbar ist. Er ist zum großen Teil von teils mächtigen Bäumen gesäumt, verläuft manchmal in seinem Flussbett, hin und wieder verzweigt er sich gefühlt in unzählige Arme. 

Klar, dass viele den Fluss wesentlich sympathischer finden werden als den Kanal.

Auf diesem habe ich in der ganzen Zeit kein einziges Boot gesehen. Eine wirtschaftliche Bedeutung hat er heutzutage nicht mehr.

Ich (oder vielleicht auch wir) brauchen die beide aber als paar und meine Fixierung auf dieses muntere Gewässer-Pärchen hat einen literarischen Grund: »Das Wirtshaus zu den Ertrunkenen«. Wer nun meint, dass nach den niederschlagenden Ergebnissen der literarischen Spurensuche in Moret, es wäre mir mit dieser Geschichte besser ergangen … der täuscht sich. Mir war das schon zuvor klar gewesen. Das Kartenmaterial heute lässt erahnen, wie viel sich im Straßenbau geändert hat. Auch, wie sich die Gemeinden verändert - sprich, vergrößert haben.

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Ich hatte mir vor geraumer Zeit einen Michelin von dieser Region besorgt und dort mal recherchiert. Aber auch hier werden schnell Grenzen erreicht. Denn es existieren zwar die beiden Fixpunkte, jedoch bleibt Simenon recht vage:

»Hätten Sie Lust, mit mir zu kommen? Etwa fünfzehn Kilometer von hier ist heute Nacht ein merkwürdiger Unfall passiert.«

Ausgangspunkt ist Nemours, so heißt es in der Erzählung. Aber was wissen wir genau? Eigentlich nichts. Denn wo hatte der Gendarmerieoffizier, bei dem Maigret genächtigt hatte, gewohnt? Eine exakte Wissenschaft würde erst daraus werden, wenn Simenon bei dieser Angabe ein wenig genauer gewesen wäre. Also hat man nur einen ungefähren Anhaltspunkt, von wo aus die Reise zu dem Zielort los geht.

Leichter wird es einem nicht gemacht, denn Simenon gab an, dass

  • sich die Loing in unmittelbarer Nähe der Straße befand,
  • der Kanal nicht weit entfernt gewesen war, andernfalls hätte der Schiffer nicht helfen können,
  • diese Konstellation kombiniert wurde mit einer Kurve der Straße und
  • sich dort nur ein Gasthof befunden hat, einsam gelegen.

Betrachtet an die alte Karte und die damaligen Entfernungsangaben, dann bleibt man bei Dordives stehen. Etwa fünfzehn Kilometer entfernt von Nemours. Scheint also ideal zu sein, zumal auch Kanal und Fluss nah beieinanderliegen. Wenn nur nicht die Straße weit von dem Ort entfernt wäre.

Bliebe der Streckenabschnitt zwischen Glandelles und Souppes. Hier verläuft sowohl die Straße nah am Fluss, es gibt sogar eine Kurve. Allerdings käme es mit den fünfzehn Kilometer Entfernung von Nemours so gar nicht mehr hin. Ein weiterer Aspekt, der anzuführen ist: Bei der Fahrt in Richtung Montargis fiel auf, dass die Straße gesäumt ist von Gebäuden, die alle nicht in jüngster Zeit entstanden sind. Ich würde sagen, viele von ihnen hatten locker achtzig, neunzig Jahre auf dem Buckel. Eine ganze Reihe davon waren in einem sehr traurigen Zustand.

Während wir den Verkehr auf der Suche nach einer passenden Stelle für einen solchen Unfallort absuchten, hielten wir auch Ausschau nach einem adäquaten Gasthof. Aber wir wurden so gar nicht fündig.

Nun werde ich mich nicht hinstellen und behaupten, dass es dieses Lokal und die von Simenon beschriebene Umgebung nicht gegeben hat. Aber ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich.

Denn bei dem Szenario braucht man auch immer noch einen Übergang. Wenn ein Fluss derart tief ist, dass ein Auto in diesem versinken kann und Menschen ertrinken könnten, ist es unwahrscheinlich, dass der Schiffer, der helfen wollte, durch den Fluss gewatet ist, um auf der anderen Seite des Ufers der Polizei Auskunft zu erteilen. Und auch Maigret musste, als er das Schiffer-Ehepaar auf dem Boot besuchte, eine Brücke genutzt haben. Das wäre in einer Ortschaft am wahrscheinlichsten, darauf wird aber nicht eingegangen.

Zwei Orte

Da mir schon beim Betrachten der Karten aufgefallen war, dass Unstimmigkeiten bestehen, hatte ich keine großen Erwartungen an die Realitäten gehabt. Mich hat die Umgebung interessiert und deshalb bin ich nicht enttäuscht ob der Ergebnisse gewesen.

Aber natürlich haben wir auch die beide Orte besucht, die Simenon uns als Fixpunkte in der Erzählung mitgegeben hat. Zum einen wäre da Nemours. Von Moret kommend, war das unsere erste Anlaufstation. Nun waren wir ein wenig verwöhnt von dem Moret-Domizil und Nemours kann diese, wenn man in den Ort hineinfährt, nicht erfüllen. 

Aber ein wenig Geduld – begeben Sie sich in die Innenstadt. Diese ist ganz reizvoll und kann mit einer großartigen Kirche (St-Jean-Baptiste) aufwarten wie auch einem Schloss. Von der gegenüberliegenden Seite sieht das Arrangement dank der Grünanlagen ansprechend aus. Wir waren, was Schlösser angeht, gesättigt, machten also einen Bogen um das von Nemours und ich will gestehen, dass wir aus einem profanen Grund die Kirche nicht besuchten: Ich hatte Getränkedose in den Händen, die ich gern weggeworfen hätte, aber in der Nähe gab es keinen Mülleimer. Und wer besucht schon mit Müll ein kulturelles Denkmal?

Was war denn in Montargis, fragte meine bessere Hälfte. Ich erklärte ihr, dass Joseph Lecoin nach dem Vorfall nach Montargis gefahren war. Nemours wäre logischer gewesen, aber er entschied sich für die Gendarmerie in dieser Stadt. Und, was wäre genau zu sehen, fragte sie – ja, eigentlich nichts. Aber da jede Frau und jeder Mann, die so eine Fahrt freiwillig mitmacht, eine Aufgabe braucht, meinte ich: »Lecoin fuhr mit seinem LKW zu einer Tankstelle mit einem Fahrradladen. Wenn du die Kombination findest und diese Tankstelle auch noch zweistöckig ist, würdest du mich sehr glücklich machen.« Daraus wurde nichts.

Stattdessen stiefelten wir eine Weile durch die Gegend und ich wunderte mich, wie man auf die Idee kommen konnte, die Stadt über Lautsprecher mit Musik zu beschallen. Einfach so. Wir haben die Polizeistation gesehen, die in der Nähe unseres Parkplatzes lag – ein hässliches Gebäude –, allerdings ging Lecoin nicht zur Polizei, sondern zur Gendarmerie. In Frankreich macht das schon ein Unterschied.

Wir sahen ein paar hübsche Ecken in der Stadt (der Festsaal ist beispielsweise sehr prächtig), aber sie war bei Weitem nicht so reizvoll wie Nemours und natürlich kein Vergleich mit Moret.