Schleuse Nr. 7 bei Coudray

Als der Zug die Fähre nahm


Fliegen die Buchstaben, Wörter, Sätze beim Lesen an mir vorbei, entstehen vor meinem geistigen Auge Filme. Maigret und seine Kollegen, für jeden habe ich ein Gesicht. So geht mir das auch mit den Gesprächen, die geführt werden und den Handlungen, die uns der Autor in einer Geschichte schildert. Blöd ist’s, wenn dieser Film plötzlich durch ein Fehler im Skript gestört wird. Da wird es dann schräg.

An dieser Stelle in »Maigret contra Picpus« unterhielt sich Maigret mit Madame Roy, Wirtin eines Gasthofes in Morsang, über ihren Gast Monsieur Blaise. Dieser kam gern am Sonnabend, ließ es sich gut gehen, angelte und fuhr Sonntag zurück. Oder in den Worten der aktuellen Übersetzung:

Ja, Monsieur Blaise komme samstagabends mit dem Zug und fahre am Sonntag immer mit dem Sechsuhrzug zurück. Es wurde Zeit, dass der Zug oberhalb des Staudamms übersetzte.

Spielt man alte Zelluloid-Filme ab, so konnte es vorkommen, dass unverrichteter Dinge die Filme rissen oder gar Feuer fingen. Auf der Leinwand gab es ein komisches Muster und dann war erst einmal Pause. 

Mein Filmriss war, dass »der Zug oberhalb des Staudammes übersetzte«.

Das kam mir sehr komisch vor. Erst einmal ist dort das Bild eines Staudammes. Das ist schon ein beachtliches Bauwerk, das sich dem Wasser der Seine entgegenstellen müsste und diese staut. Als ich vor einiger Zeit in der Gegend war, ist mir ein großer Damm genauso wenig aufgefallen wie ein Stausee.

Wenn es einen Staudamm gäbe, warum müsste der Zug oberhalb des Staudammes übersetzen? Und vor allem: wie? Mit einer Fähre – denn damit würde ich bei einem Gewässer »übersetzen« verbinden. Das müsste ein beachtliche Schiff sein, die einen Vorort-Zug über einen Fluss transportiert. Aufwendig wäre es dazu – würde man den Zug nicht über eine Brücke fahren lassen? Aus der Formulierung ergeben sich, wie unschwer zu erkennen ist, mehr Fragen als Antworten.

Die schlechte Nachricht ist: Mein Französisch ist so mies, dass ich aus dem Originaltext auch nicht schlau werde. Der Vollständigkeit halber führe ich die Stelle an:

Oui, M. Blaise, qui arrive par le train le samedi soir, a l'habitude de repartir le dimanche au train de six heures. Il va être temps qu'il passe l'eau au-dessus du barrage.

Hilfreich ist es, sich die Gegebenheiten anzuschauen.

Gegenüber von Morsang liegt Coudray. Dort hatte man ein Wehr installiert. Das kann man ebenso mit »la barrage« übersetzen wie Staudamm. Es existiert an der Stelle bis heute eine Schleuse gibt. 

Die Frage ist, wie man von der einen Seite auf die andere gelangt: Heute ist das einfach, denn an der Schleuse existiert eine Brücke, über die man als Fußgänger von der einen Seite zur anderen kommt. Sehr bequem. Der verunglückten Formulierung würde ich entnehmen, dass dort eine Fähre existierte, die man zum Überqueren verwenden konnte. Nur, dass halt nicht der Zug den Fluss querte, sondern Monsieur Blaise – er ist es, der mit »il« gemeint ist.

Dass das so ist, wie ich mir das zusammenreime, spricht auch eine Beobachtung Maigrets ein paar Seiten später, in der es heißt: 

In der Ferne sah er das Fährboot, konnte den Mann darauf jedoch nicht entdecken.

In einer älteren Übersetzung aus dem Diogenes-Verlag wurde für die problematische Stelle folgende Formulierung gewählt:

Ja, Monsieur Blaise komme für gewöhnlich samstags abends an und fahre sonntags mit dem Sechs-Uhr-Zug wieder zurück. Es wurde Zeit, dass er oberhalb des Staudammes übersetzte.

Geschenkt, dass auch hier von einem Stausee die Rede ist, der so dort nicht vorhanden ist. Durch die Verwendung von »er« können die Lesenden sich aber gut vorstellen, dass es um den besagten Monsieur geht und nicht um einen Zug.

Der Beschreibung nach befand sich der Gasthof auf der einen Seite der Seine in der Nähe von Morsang. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses liegt Coudray. Dort führt eine Bahnlinie entlang. In dem Ort und (mittlerweile) auch an der Schleuse gibt es einen Haltepunkt der Bahn.

Auch wenn Monsieur Blaise an dem beschriebenen Tag vorzog, mit Gästen des Gasthauses in deren Auto mitzufahren, um sich in Corbeil absetzen zu lassen zu lassen. Da nahm er zwar auch nicht die Bahn, aber das ist eine andere Geschichte.

Da Madame Maigret und ihr Mann nicht mit dem Auto zu dem Gasthof gereist sein können (Madame Maigret hatte noch keinen Führerschein), wären sie ebenso wie Monsieur Blaise üblicherweise mit dem Zug bis nach Coudray gefahren.

Anmerkung zum Titelbild: Die Abbildung zu dem Beitrag stellt die Schleuse Nummer 7 bei Coudray dar. Das ist der Staudamm, von dem im Text die Rede ist. Zugegeben, man muss schon sehr genau hinschauen, um überhaupt etwas zu erkennen.