Der erste G7
Es wäre möglich gewesen, dass der Kommissar den früheren oder späteren Tatort seines Kollegen Maigret passierte, denn keine zehn Kilometer von Itteville liegt die »Kreuzung der drei Witwen«, an der sich dieser mit einem merkwürdigen Fall herumzuschlagen hatte, bei der die Leiche eines Mannes in einem Auto platziert wurde, das Auto wiederum in der Garage des Nachbarn des Autobesitzers. Dieser hier beschriebene Fall hätte in Anlehnung an den Maigret-Fall auch »G7s Nacht an der Kreuzung« heißen können, aber so eintönig hat Simenon seine Titel nicht gestaltet.
Gestatten, G7
Bei G7 handelt es sich um einen Kommissar des Quai des Orfèvres. Er wird als dreißigjähriger Mann geschildert, der mehr wie ein Rathausscheiber oder Bürovorsteher wirkt. Ein schüchterner Typ, der sich nicht in den Vordergrund spielte und den man deshalb eher unterschätzte. Dazu kam, dass er sich dezent und langweilig kleidete. Grau.
Er hatte einen roten Haarschopf. In Paris gab es damals eine Taxi-Firma namens G7, deren Taxen den gleichen Farbton hatten wie der Haarschopf des Kommissars, womit er bei seinen Kollegen den Namen weghatte.
G7 fuhr ein älteres Modell des Citroën 5CV in einer eintürigen Torpedo-Ausführung. Folgt man dem Link, bekommt man einen Eindruck von dem Fahrzeug, was der Kommissar fuhr und es erklärt sich auch, warum der Erzähler schreibt, dass sie bei der Ankunft in Itteville durchnässt und durchgefroren waren waren.
Der Erzähler
Die Geschichte ist aus der Ich-Perspektive erzählt. Der Erzähler ist nicht nur Beobachter, sondern auch Akteur. Bei dem Erzähler könnte es sich um Simenon handeln. Er schreibt:
Ich habe etliche Kriminalromane verfasst. Das hat zu recht engen Beziehungen zur Sûrete Générale und zur Kriminalpolizei geführt.
Weitere Indizien dafür gibt es jedoch in dieser Geschichte noch nicht. G7 hatte den Erzähler in Paris angerufen und gebeten mitzukommen.
Was haben wir denn da?
Der Posthalter von Itteville, Tabarot, radelte jeden Freitag nach Ballancourt, um dort mit seinem Freund, dem Gemeindeschreiber, Karten zu spielen. An diesem Tag war das kein Vergnügen, da das Wetter nicht sehr erfreulich war. Er musste bei Gegenwind wieder zurückradeln, eine mühsame Angelegenheit. Er sieht an der »Kreuzung zum Toten Hengst«, Menschen stehen. Schemenhaft. Mir ist nicht ganz klar, wen er dort sieht, denn auf ihn zustürzen tut nur eine junge Frau, die ihn um Hilfe angeht, da jemand umgebracht worden wäre. Der Posthalter, ein gewissenhafter Mensch, prüft das und stellt dann fest, dass es sich um Dr. Canut handelt. Aber es ist sonst niemand in der Nähe. Warum also sieht er Menschen stehen? Dieses Rätsel bleibt…
Er radelt zur Polizei und gibt Bescheid. Als er mit den Polizisten zurückkommt, muss er jedoch feststellen, dass auf der Straße ein Toter liegt. Es handelt sich aber nicht mehr um Dr. Canut. Die Irritation des Posthalters kann man sich gut vorstellen, in einem solchen Moment zweifelt man ganz gewiss an seinem Verstand. (Nun ja, es könnte auch sein, dass man heutzutage nach einer versteckten Kamera Ausschau hält – sicher ist sicher.)
Alles ist irritierend, findet der Posthalter Tabarot. Bei der ersten Begegnung mit dem Tatort hatte er den dort Liegenden untersucht, ihm über den Brustkorb gestrichen. Da erkannte er das Opfer als den bekannten Arzt Dr. Canut. Nun lag da jemand, der ein Messer im Herzen stecken hatte. Den Unterschied hätte er doch bemerkt!
Auftritt G7!
Die Polizei von Itteville holte sich Hilfe in Paris und so kam es, dass G7 in der gleichen Nacht mit seinem Begleiter in den Ort fünfzig Kilometer südlich von Paris reiste. Sie kamen an, standen an der Kreuzung im Straßendreck – wo es eigentlich nichts mehr zu sehen gab, denn die Leiche war schon abgeholt – und hörten sich die Geschichte des örtlichen Brigadiers an, der die passende Kleidung für das Schietwetter trug und der den beiden Parisern wirklich alles erzählte. Diese hatten sich nicht vorausschauend gekleidet und waren nicht sehr dankbar über die Ausführlichkeit des Dorfpolizisten.
Wie von der örtlichen Polizei erwünscht, nahm der Pariser Kommissar die Ermittlungen in die Hand.
Zu dem Zeitpunkt war klar, dass man es nur mit einer Leiche zu tun hatte. Die sterblichen Überreste konnten nicht Dr. Canut zugeordnet werden, denn dieser praktizierte quicklebendig in seiner angesehenen Klinik. Dorthin hatte man auch den Ermordeten gebracht, den man an der Kreuzung gefunden hatte.
Der Arzt empfing den Kommissar und seinen Begleiter. Er erzählte, dass er durchaus die Kreuzung kennt, durchaus die junge Frau kennen würde. Das große »Aber« war, aber dass der Mann behauptete, er hätte überhaupt nichts von dem Drama um einen Toten mitbekommen. Er wäre im Nachbarort gewesen und hätte bei einer Entbindung geholfen – ein ziemlich gutes Alibi. Dr. Canut war mit dem Fahrrad dahingefahren, da er gerade bei Dunkelheit und Nässe dieses lieber als das Auto benutzen würde. Eine Stelle, die einen stutzig werden lässt: Welcher normale Mensch würde bei so einem Wetter lieber mit dem Fahrrad fahren als mit dem Auto? Aber das kann hinten angestellt werden und um dieses Problem würde sich der Kommissar sich auch kümmern.
G7 möchte gern die Leiche sehen, um sich ein Bild vom Toten zu machen. Es ergab sich nur ein kleines Problem: Die Leiche war weg. Verschwunden.
Also macht er sich auf den Weg zur Hauptzeugin: Der Irren von Itteville.
Gelungener Einstand
Daniel Kampa schreibt in seinem Nachwort zu dem Erzählband »Das Rätsel der Maria Galanta«, dass Kommissar G7 die Konkurrenz zu Kommissar Maigret gewesen sei. Simenon hätte also zwei Eisen im Feuer gehabt und schaute, welcher Kommissar sich besser entwickeln würde. Im Hinblick darauf, dass Simenon auf diesem Feld der Kriminalromane ein Pionier gewesen war, denn die Helden von Kriminalgeschichten waren zur damaligen Zeit nicht Polizisten, war dies gewiss ein cleverer Schachzug. Der Wettbewerb zwischen den beiden Kommissaren wurde aber von den Lesern entschieden, die die Geschichten von Maigret dann doch lieber las als die von G7.
Es gibt große Unterschiede zwischen den beiden Kommissaren und der Herangehensweise, wie Simenon die Geschichten seiner Helden erzählt. Bei G7 haben wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der nah dran ist und die Handlungen des Kommissars nicht nur nacherzählt sondern auch wertet. Der Erzähler, wie oben erwähnt ein Schriftsteller, macht nicht den Eindruck, als ob er distanziert wäre und manchmal hat man den Eindruck, er wüsste es besser oder findet die Vorgehensweise von G7 kritikwürdig. Außerdem ist der Kommissar G7 jung und man kommt nicht einmal auf die Idee, ihn als Vater-Figur in Erwägung zu ziehen. Damit stellt er einen deutlichen Kontrast zu Maigret dar. Von dem wissen wir, wie er ist und die Erzählform ist in 99% der Fälle die eines fremden Erzählers. Dieser ist immer nah am Geschehen, auch wenn Maigret nicht involviert ist, und er ist immer neutral – Wertungen des Handelns von Maigret sind nicht zu finden, Kritik an dem Kommissar also schon gar nicht. Es sei denn, sie wird von Dritten vorgetragen.
Eine weitere Besonderheit ist, dass die Erzählung eigentlich als Foto-Roman erschienen ist. Die Fotografien sind damals von Germaine Krull beigesteuert worden. Der Verleger hatte sich damit auf ein Experiment eingelassen und dieses scheiterte kommerziell. Weitere Folgen dieser Fotoromane sollte es nicht geben. Es wäre ein Traum gewesen, wenn der Kampa Verlag »Die Verrückte von Itteville« nun als Foto-Roman veröffentlich hätte. Aber dieser Traum gehört wohl in die Kategorie »Schön geträumt«.
Man bekommt mit der Erzählung keinen neuen Maigret an die Hand. Wer diese Erwartungshaltung hegt, dürfte enttäuscht werden. Wer sich für den »ganzen Simenon« interessiert, bekommt aber mit der Erzählung einen guten Einstieg in die G7-Welt. Die Geschichte ist interessanter als so manche Non-Maigret-Erzählung und schlägt in Aufbau und Originalität manche Maigret-Kurzerzählung, wenn auch nicht jede.