Normandie


Man kann mit Simenon in Gedanken in die Normandie reisen. Gibt man sich das Vergnügen, Spuren aus den Geschichten in der Realität zu suchen, wird man des öfteren enttäuscht (wie meistens), kann aber auch Überraschungen erleben. Einen Versuch war es wert ...

Erinnerungen sind trügerisch: Ich sah, wie ich mit dem Zug in Dieppe ankam und an einem Quai nah dem Wasser ausgestiegen bin. Aber dies kann nicht meine Erinnerung gewesen sein, wie ich jetzt – zehn Jahre später – bei einer erneuten Besichtigung der Stadt feststellen durfte. Der Bahnhof von Dieppe ist ziemlich gewöhnlich, ein typisches Bahnhofsgebäude, ohne eine einzige Auffälligkeit.

Mein Verhältnis zu Dieppe war und ist getrübt. Die Stadt nahm mich nicht gefangen. Wenn ich durch die Stadt marschierte, fühlte ich mich nicht willkommen. Das Hotelzimmer, welches ich bei meinem ersten Besuch von Dieppe bezog, ließ sich nur mit dem Wort schrecklich bezeichnen, eine Abstellkammer mit Bett für einen überzogenen Preis, wollte ich meinen. Das Wetter konnte man nicht als schön bezeichnen und die Preise der Restaurants kamen mir unverschämt teuer vor. So zog ich es vor, mich am nächsten Tag davonzustehlen.

Lustigerweise war das in literarischer Hinsicht ebenso gewesen. Nachdem ich jahrelang nur Maigrets gelesen hatte, wagte ich mich an einem Non-Maigret. »Der Mann aus London« verdarb mir jedoch auf Jahre den Appetit auf Non-Maigrets. War es die dunkle Atmosphäre, das Nebulöse in der Geschichte Simenons? Ich legte den Roman bald beiseite und blieb bei meinen Maigrets.

Heute vermag ich nicht zu sagen, ob ich erst den Roman in den Händen hielt oder ob ich erst das Städtchen am Ärmelkanal besuchte. Der Spaziergang durch die Stadt ist heute genauso wenig erbauend wie vor zehn Jahren. Da ich die gleiche dumme Angewohnheit habe, wie viele andere Menschen auch, an Orte zurückzukehren, die man schon besichtigt hat, um zu schauen, wie sie sich entwickelt haben und ob man »seine« Plätze erkennt, wandelte ich bei meinem letzten Besuch auf den Spuren der eigenen Vergangenheit. Von den Bahnanlagen, wie sie Simenon beschrieb, sind nur noch einzelne Gleise im Pflaster zu sehen. Kräne zeugen von einem regen Hafenbetrieb in der Stadt.

Die Geschichte des Bahnbeamten Maloin, der einen Mann nicht retten kann, dafür aber einen Koffer Geld, den er fortan zu verteidigen versucht – vor den eigentlichen Besitzern, vor einem Verbrecher, vor der eigenen Familie und vor sich – nahm mich dann doch noch gefangen. In einem trüben Herbst (oder auch Winter) hatte ich ihn zur Hand genommen und siehe da, die Geschichte passte zu meinen Leseerwartungen.

Der Bahnhof, an dem ich in meiner Erinnerung in Dieppe angekommen war, war der Bahnhof, den Simenon in seinem Buch beschrieb. Ein klein wenig enttäuscht war ich schon, als ich bei meinem diesjährigen Besuch feststellen musste, dass die baulichen Verhältnisse ganz andere waren, wesentlich profaner: Dieser besondere Bahnhof hatte etwas, was mir Dieppe sympathisch gemacht hatte – nur war er nicht da.

Es war gar nicht leicht aus Dieppe zu verschwinden. Diese Erfahrung, immerhin, teile ich mit einigen Romanfiguren Simenons.

Es gibt keine direkte Eisenbahnverbindung der Städte am Meer miteinander, zumindest in diesem Teil der Normandie. Wollte man mit dem Zug von Dieppe nach Fécamp, so hieße das, dass man sich auf den Weg nach Rouen machen müsste (sechzig Kilometer) und von dort aus auf dem Weg nach Fécamp (auch ungefähr sechzig Kilometer). Die Distanz zwischen den beiden Küstenstädten beträgt ebenfalls sechzig Kilometer und da schien mir eine Fahrt mit dem Zug ein außergewöhnlicher Umweg zu sein. Aber es gab Busse!

Das war mir mehr als recht. Mir drohte kein Ende im Hafenbecken, das nicht, aber ich war froh diesen Ort verlassen zu dürfen. Es sollte eine Verbindung nach Fécamp geben, die man nicht perfekt nennen konnte: In einem kleinen Städtchen auf der Strecke, so die Auskunft, gäbe es ein wenig Aufenthalt – zwei, drei Stunden –, bevor es weiterginge. Die Fahrt sollte denkwürdig werden, denn sämtliche Pläne wurden von dem Busfahrer über den Haufen geworfen. Den ersten Teil der Strecke, absolvierten wir in Michael-Schumacher-Manier. Die engen und kurvigen Straße entlang der Steilküste laden den Autofahrer zu besonderer Vorsicht ein. Der Busfahrer war unerschrocken, schien die Strecke sehr gut zu kennen und fuhr in einem äußerst rasanten Tempo auf sein Ziel zu. Die Fahrgäste, den Schweiß auf der Stirn, konnten die herrliche Strecke nicht genießen; mindestens zwei willige Fahrgäste wurden vom Busfahrer an einer Bushaltestelle übersehen und blieben winkend zurück. Dann gab es eine Pause, Zeit für mich umzusteigen, so dachte ich. Der Busfahrer eilte schnurstracks auf ein kleines Bistro zu und kurze Zeit später traf ein zweiter Bus ein, dessen Fahrerin ebenfalls auf das Bistro zueilte. Ich stellte mich auf eine längere Wartezeit ein, aber so lang wurde sie gar nicht. Sie kamen wieder, ohne Eile, und mein Bus in Richtung Fécamp wurde von der Busfahrerin übernommen. So stand es nicht im Fahrplan, aber ich wollte (und will) mich darüber nicht beklagen. Der zweite Teil der Strecke wurde gemütlicher absolviert. Die Fahrerin hielt zum Beispiel plötzlich an und unterhielt sich geraume Zeit mit einer Frau, die an einem Gartenzaun stand, bevor es weiter in Richtung Fécamp ging. Die verbliebenen Fahrgäste empfanden diese Fahrweise als sehr viel angenehmer, sie mussten sich noch von den Strapazen des ersten Abschnittes erholen.

Maigret fuhr mit der Bahn. Die Züge sind heutzutage moderner, fahren dafür auf einem verkleinerten Streckennetz viel seltener. Die Anfahrt von Paris in diese Region hat sich nicht geändert. Damals wie heute gibt es einen Express von Paris nach Le Havre, der über Rouen führt und auch in Bréauté hält. Das ist die Station, an der der Kommissar aussteigen musste, wenn er die Urlaubsorte an der Küste besuchte. Die Bedeutung der Strecke hat mit den Jahren abgenommen, aber man kann sich sicher fragen, ob zuerst die Fahrgäste weggeblieben sind, die lieber das Auto nahmen, oder ob ein Unternehmen wie die SNCF zu sparen anfing und die Fahrgäste darauf reagierten.

Die Strecke ist heute ein Schatten ihrer selbst. Den größten Teil der Route von Fécamp nach Bréauté fährt der Zug in Langsamfahrt – heutzutage mit sehr komfortablem Zugmaterial. Mit dem Auto, es muss leider gesagt werden, ist man schneller unterwegs. Kurz vor Fécamp trifft der Fahrgast auf einen kleinen Bahnhof. Der Zugbus, wie er hier genannt wird, hält an der Haltestelle Les Ifs nur gelegentlich. Früher jedoch, wurde mir erzählt, war dies ein großer und wichtiger Bahnhof. Statt einem Gleis, welches heute marode ist, gab es vier Gleise und man konnte Les Ifs als Drehkreuz der Region bezeichnen. Was von der einstigen Pracht geblieben ist, ist ein verwunschener Bahnhof mit einem zweitem Gleis, auf dem Waggons vergangener Jahrzehnte stehen, die liebevoll restauriert werden.

Angenommen Maigret müsste heute anreisen, um einen Fall in Fécamp oder Étretat zu untersuchen, er wäre besser beraten, mit dem Flugzeug bis Le Havre zu fliegen und mit dem Taxi in die kleinen Städtchen zu fahren. Auf den Streit mit seiner Reisekostenabteilung sollte es der Kommissar ankommen lassen.

Würde er jedoch das Abenteuer auf sich nehmen, und mit dem Zug anreisen, sähe er bei seiner Ankunft in Fécamp einen McDonalds und eine Kirche. (Ich werde mir kein Urteil darüber erlauben, wie der Pariser Kommissar zu dem Schnellbräter stände – ihm lag die regionale Küche, glaube ich, mehr.)

Gleich in seinem ersten Abenteuer verschlug es Maigret in »Pietr der Lette« nach Fécamp. Sein Zwischenaufenthalt an der Station Bréauté kam ihm vor wie ein Vorgeschmack auf Fécamp. Man kann spüren, dass er nichts Gutes erwartet. Maigret fand den Bahnhof schrecklich (»Er stieg in Bréauté-Beuzeville mit seinem unfreundlichen Bahnhof aus dem Schnellzug Paris - Le Havre.« [Maigret und die alte Dame]) und machte Bekanntschaft mit der Kneipe gegenüber dem Bahnhof, die heute noch existiert.

In Fécamp angekommen, machte er sich auf den Weg zu einem Fotografen, der ihm eine Spur liefern konnte. Die Spur war verwertbar und führte zu weiteren Zeugen.

Nach dem Besuch bei einer ehemaligen Kassiererin stürzte sich der Pariser in das Hafenviertel von Fécamp. Simenon schreibt, dass Maigret keine ausgesprochenen Spelunken in der Nähe des Hafen entdecken konnte, aber es hätte ein paar Kneipen gegeben, die von den einheimischen Fischern gemieden wurden. Maigret machte es sich in einer solchen Kneipe an einem Ofen bequem, wärmte sich auf – der November in der Normandie ist regnerisch und kalt und begann sein Duell mit einem Gegner, der übermächtig und einflussreich schien.

Gemeinsam mit diesem Gegner trat er auch die Rückreise nach Paris an, die am Bahnhof Saint-Lazare endete.

Solche Kneipen, wie Simenon sie beschreibt, gibt es heute nicht mehr. Selbst die Bistros in Fécamp, gerade in der Nähe des Hafens, pflegen heute Touristenpreise zu haben und richten sich im Ambiente nach dem Geschmack ihrer Klientel. Der Tourismus spielte schon zu Maigrets Zeit eine Rolle in der Stadt, der Fischfang aber dominierte das Leben in dem Ort. Heute ist es andersherum: Man sieht noch, dass es Fischerei gibt, aber nur dann, wenn man sich an den Touristen vorbeigedrängtelt hat.

Wurde in »Pietr der Lette« der Tourismus nur angedeutet, so wurde er in »Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer« in konkreter Form aufgenommen: Maigret und seine Frau sind es, die ihren Urlaub in Fécamp verbringen. Dies nicht ganz freiwillig, denn eigentlich wollte das Ehepaar seinen Urlaub in Ostfrankreich verbringen.

Jorissen, ein Schulfreund Maigrets, hatte einen Brief geschrieben, in dem er den Fall eines ehemaligen Schülers beschrieb, der kaum, dass er in die Fischereiflotte eingetreten war, auch schon in Schwierigkeiten steckte. Man verdächtigte Pierre Clinche, seinen Kapitän umgebracht zu haben. Maigrets Schulkamerad, der als Lehrer in Quimper arbeitete, kamen diese Anschuldigungen sehr unwahrscheinlich vor. Maigret hatte einen Namen und konnte sicher helfen.

Madame Maigret willigte ein, wenn auch ungern, und so verbrachten sie ihre Ferien in Fécamp mit einer Mördersuche. Sie quartieren sich im Hôtel de la Plage ein und dürften dort den schönen Blick auf das Meer, die Bucht und die Steilküste genossen haben. Die Schnitzel waren nicht nach Madame Maigrets Geschmack, der Kommissar kam aber voll auf seine Kosten.

Zum Beispiel im Au Rendez-Vous de Terre-Neuvas, welches heute am Strand von Fécamp unter fast dem gleichen Namen zu finden ist. Früher soll es gegenüber den Quais gelegen haben. Vielleicht hat die Erwähnung in den Romanen dem Café eine gewisse Popularität verschafft, so dass ein Wechsel angemessen war. Ich war bei meinem Besuch nicht in der Lokalität – es herrschte an diesem Pfingstfest gehöriger Trubel auf der Strandpromenade von Fécamp.

Eine andere Sehenswürdigkeit erwähnt Simenon in seinem Maigret-Roman nicht: das Palais Benedictin. Dieses hat ein Fabrikant im 19. Jahrhundert mitten in Fécamp errichten lassen und es sieht aus wie ein hochherrschaftliches Schloss. Seinen Namen verdankt es einem Kräuterlikör, der in der Gegend hergestellt wird: dem Benediktiner. Dieser wird Maigret in einem Restaurant angeboten, er zieht dem Kräuterlikör ein Bier vor.

Jeder Ort an der Küste scheint sein eigenes Kasino zu haben. Fécamp hatte seines – Madame Maigret schlägt in einer hochnotpeinlichen Situation vor, dieses aufzusuchen, hat mit ihrem Vorschlag bei den Anwesenden aber keine Chance und kann deshalb auch nicht das folgende Drama verhindern.

Yport war nie mit dem Zug erreichbar. Meine erste Begegnung mit dem Ort hatte ich anlässlich der Fahrt nach Étretat. Während dieses Aufenthaltes hatte ich mich auf eine Wanderung von Étretat nach Yport begeben. Eine schöne Tour.

Dieses Jahr verbrachte ich längere Zeit an diesem Ort, es war in unserem Urlaub das »Hauptquartier«.

Simenon erwähnte in der Geschichte der Neufundlandfahrer-Affäre, dass Yport aus ein paar Fischerhäuschen, ein paar verstreuten Bauerngehöften und Urlaubsvillen bestehen würde, ein Hotel gäbe es auch.

Die Fischer sind verschwunden, die Bauern auch. Geblieben sind die Touristen, gekommen ist ein Campingplatz und die Anzahl der Hotels hat sich erhöht, aber nur geringfügig.
Yport ist ein kleiner Ort geblieben, durchzogen von kleinen Gassen, die mit dem Auto kaum befahrbar sind. In der Ferienzeit wirkt der Ort überfüllt, einstige Fischerdorfatmosphäre lässt sich dort genauso wenig atmen, wie in dem ehemals beschaulichen St. Tropez auf der anderen Seite Frankreichs.

Wie Maigret nach Yport kam, verschweigt Simenon. Ging er zu Fuß, so hätte er zwei Möglichkeiten gehabt: am Strand, was sicher sehr schön gewesen wäre, aber durch den Kieselstrand auch sehr mühsam und aufgrund der Gezeiten auch nicht sehr sicher; oder er wählte auf seinem Weg zum Hauptmaschinisten den sicheren Landweg, der aber sehr bergig ist und sehr anstrengend gewesen wäre. Vermutlich hat Maigret, nachdem er die Wegbeschreibung bekommen hatte, einfach ein Taxi genommen.

Eine Berühmtheit kann man sie nicht nennen, aber sie hat Yport zumindest im Simenon-Freundeskreis eine gewisse Bekanntheit verliehen: Rose. Sie war das Dienstmädchen von Madame Besson aus Étretat und verstarb, weil sie von der Medizin ihrer Madame genascht hatte. Die Madame wandte sich persönlich an Kommissar Maigret, nachdem sie ihn am Quai des Orfèvres aufgesucht hatte und bat ihn, den Fall in seine Hände zu nehmen.

Calvados bestimmt den Roman um den Mord an dem Dienstmädchen. Stetig nimmt der Kommissar ein Gläschen zu sich, wird von Madame Besson regelrecht mit dem Apfelschnaps betäubt.

Dass der Ort damals, der Roman entstand Anfang der fünfziger Jahre, schon vom Tourismus lebte, kann man spüren. Die Hotels schließen, wenn die Saison vorbei ist, der Ort verwaist. Étretat gibt sich mondän, keine Frage.

An so einem Ort fühlte sich die Aufsteigerin Besson wohl. Wohlhabende machten hier Urlaub, hatten in dem Ort ihren Ferienwohnsitz. Aber es waren nicht die Reichen. So wurde die alte Dame vielleicht nicht daran erinnert, dass sie einmal sehr reich gewesen war und »nicht nur« wohlhabend. Das Schloss war weg. Das Haus - »La Bicoque« genannt - lag am Hang und man musste bergauf gehen, um Madame Besson zu erreichen.

Maigret war das egal. Er musste Ermittlungen führen und nahm dabei zur Kenntnis, dass Madame Besson in Étretat geschätzt wurde und in Yport nicht. Wie sagte der Kollege vor Ort, Inspektor Castaing: Étretat ist nicht Yport.

Mich brachte nicht diese Geschichte nach Étretat, sondern – wie viele andere Touristen auch – der Reiz, den Falaise d’Amont zu besichtigen. Ich sah diesen Kreidefelsen auf dem Buchumschlag eines Frankreich-Baedecker und sagte mir, dass muss man gesehen haben. Diese erste Tour absolvierte ich als Rucksack-Tourist, allerdings zog ich Pensionen und Hotels irgendwelchen Jugendherbergen oder gar Campingplätzen vor und landete bei einer netten, alten Dame, die mich besonders umhegte. Seitdem kehrte ich immer wieder auf einen Sprung in dieses Städtchen ein, meist in früher Morgenstunde, zu der man den Reiz der Felsen fast allein genießen kann. Dass ich damit die Reisezeitpläne jedesmal durcheinander brachte, soll nicht verschwiegen werden – ich bleibe dabei, der Blick auf die Felsen lohnt.

In der Feriensaison ist kein Durchkommen und ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich den Trubel antun möchte. Von den drei größten, bisher erwähnten Orten, Dieppe, Fécamp und Étretat, ist letzterer sicher der Touristischste.

Man könnte annehmen, dass mich meine Tour von Étretat weiter nach Le Havre geführt hätte. Leider kann ich mich nicht entsinnen, wie ich damals zu meinem nächsten Ziel gelangte. Auf meiner Rucksackreise werde ich den Weg beschritten haben, vielleicht mit dem Bus, sicher nicht mit der Bahn, denn Étretat hat keinen Bahnanschluss mehr.

Eine Autofahrt zu einem späteren Zeitpunkt, die uns durch Le Havre führte, ist mir in besserer Erinnerung. Es war während der Ferienzeit und wir fuhren am Strand der Stadt entlang. Mir kam es vor, als wären wir an der Côte d’Azur. Das überraschte mich aus zwei Gründen: das Wetter in der Normandie ist für einen Badeurlaub sehr unzuverlässig und der größte Teil von Le Havre ist ohne Charme. Die Stadt wurde im Krieg schwer zerstört und musste – ähnlich wie Caen – neu aufgebaut werden. So hat Le Havre einen Stadtkern, der von Bauten aus den fünfziger und sechziger Jahren geprägt ist. Bei sonnigem Wetter mag das zu ertragen sein, bei miesem regnerischen Wetter sieht das gewiss sehr trübselig aus.

Trübselig schien auch das Leben von Maletras zu sein. Der Mann war einmal erfolgreich gewesen und hatte nach dem Verkauf seines Lebenswerkes viel Geld. Mit dem Verkauf seiner Firma waren ihm seine Lebensziele abhanden gekommen. Seine letzten großen Projekte waren ein Hausbau und die Heirat einer gleichaltrigen Frau. Eine reine Zweckehe: Er wollte ein großes Haus bauen und nicht allein darin leben. Von Liebe keine Spur, in dieser Beziehung zählten andere Werte: Maletras und seine Frau brauchten jemand, der sich im Notfall um die Medikamente kümmerte.
Um nicht gänzlich der Langeweile zu verfallen, kaufte sich der Rentner in ein Geschäft ein, das in finanziellen Schwierigkeiten steckte und »gab« den Geschäftsführer. Zusätzliche Abwechslung verschaffte ihm kurzzeitig eine Geliebte, der er von seinem Reichtum und Status nichts erzählte. Dass sie es erfuhr, war unabweichlich, denn die Bekanntheit Maletras ließ sich nicht mit gesellschaftlicher Geheimniskrämerei vereinbaren. Damit begann eine Serie von Ärgernissen, die darin gipfelte, dass Maletras seine Geliebte umbrachte und nun eine Leiche und einen Mitwisser am Hals hatte.

Man ist geneigt anzunehmen, dass die Geschichte für Simenon vor dem zweiten Weltkrieg spielt. Hätte er um die Modernität der Stadt gewusst, denke ich, wäre sie im Zusammenhang mit dem älter werdenden Maletras und seiner Lebensbilanz sicher erwähnt worden.

In Le Havre entsteht zur Zeit ein neues Gebäude – hoch und über die Stadtsilhouette hinausragend: eine Kirche. Zumindest an diesem Aspekt hätte Maletras seine helle Freude gehabt.