Über die Story

Es nützt nichts: wir können uns nicht an die Brust klopfen und sagen, bei uns würde so etwas nicht passieren. Die Geschichte, auch die jüngere, hat uns gelehrt, dass dies ganz und gar nicht der Fall ist – da sei als Beispiel nur Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda genannt. Wer jetzt sagt, das wäre Schnee von gestern, der irrt in meinen Augen. Gibt es eine ähnliche Konstellation erneut irgendwo in der Republik, wir würden ähnliche Vorgänge betrachten müssen. Wovon ich Rede? Pogrom-Stimmungen. Eigentlich beschreibt das Wort, welches aus dem Russischen kommt, Verwüstung und Mord an Juden – man kann es allerdings auch weiter fassen. Hier wird es in Bezug auf hochkochende, bösartige Stimmungsmache gegen ausländische Minderheiten benutzt.

Simenon beschreibt eine solche Situation (oder vielmehr, wie es dazu kommt), aus der Sicht der Minderheit. In dem Roman wird deutlich gemacht, wie wenig man sich gegen solche Vorgänge wehren kann, was für eine Eigendynamik dem Mob innewohnt, wenn er glaubt, Recht zu haben und sein Recht auch durchsetzen zu müssen. Interessanterweise ist in diesem Roman eine deutsche Familie in Frankreich Opfer der Gewalt. Erschienen ist der Roman 1939, geschrieben hat ihn Simenon vor der Reichskristallnacht am 10. November 1938. Ihm dürften die Entwicklungen in Deutschland aber nicht ganz unbekannt gewesen sein. Es spielt allerdings auch keine Rolle, weil solche Ereignisse immer und überall auftreten können.

Es beginnt damit, dass Hans Krull über die Grenze von Belgien nach Frankreich kommt. In einem Brief hatte er sein Kommen angekündigt, den Brief hatte er mit dem Namen seines verstorbenen Vaters unterstrichen. Hans kann kaum ein Wort französisch, hat allerdings die Angewohnheit, sich überall einzumischen. Er steht nicht in der zweiten Reihe, sondern in der ersten. Scheint es ihm angebracht, so lügt er wie gedruckt; braucht er Geld, fällt ihm jederzeit eine Geschichte ein, mit der er anderen Leuten Geld »abquatschen« kann.

Der Krull ist Gast bei einer sehr protestantischen Familie: Cornelius Krull, seine Frau und seine Kinder haben es nicht leicht. Sie sind es gewohnt, dass sie von den Einheimischen (zu denen sie sich eigentlich selbst zählen) geschnitten werden, dass niemand in ihrem Laden kauft (sie leben von den Schiffern am vorbeiführenden Kanal). Selbstverständlich müssen sie in der Schule die besten Leistungen bringen, um überhaupt etwas werden zu können. Der Vater ist dabei keine große Hilfe: er kam vor vielen Jahren aus Deutschland und ließ sich nieder. Da er kaum französisch spricht, ist es die Mutter, die sich um die amtlichen und gesellschaftlichen Geschäfte zu kümmern hat. Das Ehepaar hat drei Kinder: den erwachsenen Joseph, der Medizin studiert, Anna, die im Haus und Geschäft hilft, und die Jüngste Lisbeth, die noch zur Schule geht.

Das Drama beginnt, als eines Tages Sidonie, die Tochter einer stadtbekannten Trinkerin, ermordet in einem Kanal aufgefunden wird. Ihr wurden sämtliche Kleider vom Leib gerissen und sie wurde vergewaltigt. Die Ermittlungen schleppen sich hin. Die örtliche Polizei hat zuerst den Lebensgefährtin von Pipi, der Mutter, im Visier, aber der hat für den fraglichen Tag ein Alibi. Vielleicht wäre nichts passiert, wenn nicht Hans Krull »Ermittlungen« aufgenommen hätte.

Er befragt die Freundinnen von Sidonie, die dem französisch sprechendem Mann misstrauen. Am nächsten Tag erzählt eine von ihnen in der Schule, denkbar, dass sie sich wichtig machen wollte, dass sie den Mörder von Sidonie kennen würde: es wäre ein Ausländer. Sie muss diese Aussagen vor der Direktorin der Schule und vor dem Kommissar wiederholen. Der schickt, dankbar für eine Spur, eine Vorladung an Hans Krull und später an das Familienoberhaupt. Hans Krull kommt aus der Geschichte ohne Kratzer heraus, ärgerlich, dass er nicht angemeldet wurde und dass man ihm sein illegalen Grenzübertritt nachweisen konnte; aus dem Mord konnte er sich herausreden. Dafür gerät ein anderes Familienmitglied in den engsten Kreis der Verdächtigen: Joseph Krull.

Dieser hatte Sidonie schon mal angesprochen, vergeblich um sie geworben. Aus dem Schnack eines Mädchens in der Schule wird ein Volksauflauf. Anfangs stehen nur die Freundinnen von dem Haus der Krulls und begaffen es. Irgendwann stellt sich auch die Mutter dazu und die Schiffer, die durch ein Unglück am Kanal, an den Ort gefesselt sind. Man will wissen, wer der Mörder ist und ist wütend auf die Krulls, die sich als Minderheit alles erlauben dürften, und auf die Polizei, die nicht bereit ist, den Mörder zu verhaften. Langsam kocht die Volksseele hoch.

Das Wort »Mörder« an den Laden der Krulls geschrieben, ist nur der Anfang.

Mittendrin statt nur dabei, dieser bekannte Spruch eines Fernsehsenders könnte für diesen Roman gelten. Man bekommt Innenansichten eines solchen Konfliktes und muss sich fragen, wie würde man sich verhalten, wenn man dabei wäre: egal ob nun im Haus oder in der Menge davor. Hat man eine Chance, sich gegen die Massen zu stellen? Wird man dann niedergebrüllt oder, im schlimmsten Fall, niedergeschlagen? In solchen Situation, die oben erwähnten jüngeren Beispiele machen es deutlich, ist auf die Polizei nicht immer Verlass; es entsteht in diesem Buch nicht der Eindruck, als wollten sich die Krulls darauf verlassen. Aber wehren können sie sich auch nicht.

So heißt es warten, der Leser wartet mit. Simenon hat die Krulls als völlig normale, mit Fehlern behaftete Menschen geschildert. Joseph hat zu der verfahrenen Situation ebenso beigetragen wie seine Mutter und der Cousin Hans. Ihnen dann an der Situation die Schuld zu geben, wäre aber zu viel des Guten. Es ist nur ein kleines Mosaiksteinchen in dem Gesamtgefüge, und das macht Simenon dem Lesenden deutlich. Gut geschrieben und mit einer gesellschaftlichen Brisanz, wie man sie nicht oft bei Simenon findet.