Wie zwei Fremde


Freunde kann man sich aussuchen, Verwandte nicht. Von seinem Ehepartner kann man sich scheiden lassen, die Verwandten bleiben einem erhalten. Darüber war schon so manch einer unglücklich. Simenon verehrte seinen Vater, zu seiner Mutter hatte er allerdings ein sehr zwiespältiges Verhältnis.

Man sollte meinen, dass der Vater im literarischen Werk Simenons eine große Rolle spielen sollte, beispielsweise um ihm ein Denkmal zu setzen. Wenn man Züge Désirés in Kommissar Maigret entdecken will, muss man sehr genau schauen. Im Non-Maigret-Werk mag die eine oder andere Person Züge von Simenons Vater tragen. An die Präsenz der Mutter indes kommt der Vater nicht heran. Immer wieder stolpert man über Figuren, die Simenons Mutter Henriette sehr gleichen.

Stammbaum

Wer war diese Henriette Simenon geborene Brüll? Sie wurde 1880 als Tochter eines Deutschen und einer Flämin geboren. Der Vater von Henriette war Deichhauptmann, worauf die Tochter immer sehr stolz gewesen war. Später betätigte er sich im Holzhandel und in der Landwirtschaft und die Familie zog nach Lüttich. Der Vater Henriettes ließ sich, so wird gesagt, darauf ein, für einen Freund zu bürgen, was sich als fatal herausstellte, denn kurze Zeit später war er bankrott, da der Freund seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkam. Die französische Sprache beherrschte zu der Zeit keiner und so machte nicht nur die Herkunft die Brülls zu Außenseitern, sondern auch mangelnde Sprachkenntnisse. Henriette, so berichtet Simenon, sprach einen Mischmasch aus deutsch und flämisch, der in der Familie üblich war. In diesen Dialekt sollte sie später auch zurückfallen, wenn sie wütend war.

Der Vater starb, als Henriette fünf Jahre alt war. So wuchs Simenons Mutter zusammen mit ihrer Mutter auf. Henriette war die Jüngste in der Familie, ein Nachkömmling. Ihre Geschwister brachten es in vielen Fällen zu etwas, aber eine Einheit bildete die Familie nicht. Simenon berichtet, dass Henriette einen reichen Bruder hatte, der nicht bereit war, seine Schwester zu unterstützen (von dem – ganz im Gegenteil – berichtet wird, dass er seine Mutter noch über das Ohr haute, in dem er wertvolle Möbel durch Kaufhaus-Möbel ersetzte). Es gab aber auch den berühmten Onkel Simenons – Léopold –, der in Simenons späterem Werk die Vorlage für einige Clochards sein sollte.

Sie wurde Verkäuferin in dem Lütticher Kaufhaus Innovation und lernte dort auch ihren späteren Ehemann Désiré kennen. Im Alter von 22 Jahren wurde sie das erste Mal Mutter.

Die Mutter

Mama, Mami, Mutti – ein paar Bezeichnungen für eine Mutter, die eigentlich sehr geläufig sind und die sowohl den Status als Mutter beschreiben wie auch liebevolle Anrede sind. Schon auf der ersten Seite seines späten Briefes an seine (zu der Zeit schon verstorbene) Mutter stellt Simenon klar, dass er nie diese liebevollen Anreden benutzt hatte, sondern immer ein distanzierteres Mutter benutzt wurde. Ich stelle mir bei dieser Bezeichnung immer einen recht steifen und förmlichen Haushalt vor, in dem die Eltern von ihren Kindern gesiezt werden.

Solche Verhältnisse werden einem auch in Erinnerung gerufen, wenn man liest, dass Simenon sich nicht erinnern konnte, dass er jemals von seiner Mutter auf den Schoß genommen wurde. Wie viele Gelegenheiten gibt es noch im Kleinkindalter körperlichen und liebevollen Kontakt mit seiner Mutter aufzunehmen, wenn man schon nicht mal auf den Schoß genommen wird? Vielleicht im elterlichen Bett? Ausgeschlossen, schließlich schreibt Simenon, dass er an dem Tag, an dem er zum ersten Mal das Sterbezimmer seiner Mutter betrat, sie liegend gesehen hatte. Überhaupt war Henriette Simenon immer in Bewegung, immer aktiv.

Henriette war geduldig und freundlich – gegen ihre Mieter. Ihr Sohn lernte sie von einer anderen Seite kennen. Er schreibt von hysterischen Anfällen, die aus heiterem Himmel kamen (beispielsweise vor Sonntagsspaziergängen, weil sie ihr Haar nicht in den Griff bekam). Als Kind hatte er die Befürchtung, so Simenon, dass eines Tages eine Droschke käme und seine Mutter abholen würde, um sie in die Heilanstalt zu verbringen, wie es einer Schwester Henriettes widerfuhr (schließlich herrschte sie ihn mit »Du bringst mich noch ins Spital, Georges, du wirst schon sehen…« an.). Wenn das passieren würde, so konnte er sich sicher sein, würde er schuld daran sein. Denn schon früh hatte er festgestellt, wenn irgendetwas nicht funktionierte oder wenn sein Bruder weinend nach Hause kam, so war er daran Schuld. Es spielte keine Rolle, ob er überhaupt dafür die Gelegenheit hatte. Was dies angeht partizipierte Simenon von einem Zug seiner Mutter: Er ertrug es. Die Ruhe seines Vaters dürfte jedoch auch förderlich gewesen sein.

Von seinem Vater sagte Simenon, er habe nie die Hand gegen den Sohn erhoben. Simenon schildert, dass er einmal derart von seiner Mutter verprügelt wurde, dass er sich zu seinem Vater ins Versicherungsbüro flüchtete.

Geld, Geld, Geld

Henriette kokettierte mit ihrer Armut. Sie war, ohne Frage, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Aber in späteren Jahren wurde es eine gespielte Armut. Zu Lebzeiten von Désiré hatte die Familie ein Auskommen, mit dem man keine Bäume ausreißen konnte. Aber Désiré lag mit seinem Verdienst als Versicherungsangestellter nicht am unteren Ende der sozialen Skala. Hinzu kam noch der Nebenverdienst, den Henriette mit dem Betrieb ihrer Pension hatte. Ihre Hauptsorge galt ihrer Versorgung, schließlich hatte Désiré keine Lebensversicherung abgeschlossen (nicht abschließen können, wie die Familie später erfuhr). Jede sich bietende Gelegenheit, diesen Vorwurf anzubringen, nutzte Henriette. Ihr schwebte eine schöne Beamtenpension vor, die sie über den Tod ihres Mannes hinaus abgesichert hätte. So wünschte sie sich auch sehr, dass Georges eine solche gesicherte Stellung annehmen würde.

Sie machte sich nicht nur Sorgen um das eigene Geld, sondern auch um das Geld ihres Sohnes. Der begab sich Anfang der zwanziger Jahre nach Paris, um sein Glück als Künstler zu versuchen (für Henriette sicher ein absurder Gedanke – hatte sie doch eine gute Anstellung im Sinn, beispielsweise mit einer Pension wie sie Eisenbahner bekamen). Mochte Simenon am Anfang seiner Karriere mehr Handwerker als Künstler in schrifstellerischer Hinsicht gewesen sein, er schaffte es alsbald seine Familie zu versorgen. Zu dieser Familie gehörte auch seine Mutter, die regelmäßig Geld von ihm bekam – ganz Familienoberhaupt, dass er nach dem Tod seines Vaters war.

Die Mutter betrachtete den immer aufwendiger werdenden Lebensstil ihres Ältesten mit großer Skepsis. Sie besuchte ihren Sohn, nachdem sich dieser auf La Richardière niedergelassen hatte. Die meiste Zeit verbrachte sie, so Simenon, im Garten. Aber es schien in ihr zu rumoren. Wenn sich die Gelegenheit er­gab, fragte sie nach, ob ihr Sohn sich dies überhaupt leisten könne. Das machte sie auch dreißig Jahre später noch, als ihr Sohn ein Schriftsteller von Weltruf war.

Simenon mochte nicht beurteilen, ob ­diese Fragen aus Besorgnis oder Liebe zu ihm resultierten. Es stellt ein Armutszeugnis in zweierlei Hinsicht dar: Wenn es Henriette wirklich so brennend interessiert hatte, wie man es aus Simenons Text herauslesen kann, warum hat sie ihren Sohn nicht selbst befragt? Simenon wusste von diesen Fragen seiner Mutter, warum hat er sie nicht beiseite genommen und ihr geschildert, wie vermögend er war? Die Antwort mag auf der Hand liegen: Seine Mutter misstraute ihm, sein beruflicher Erfolg über die vielen Jahre konnte daran nichts ändern und Simenon wusste wohl darum, dass es vergeblich war, seiner Mutter zu sagen, dass sie sich um ihn in finanzieller Hinsicht keine Sorgen zu machen brauchte.

Über viele Jahre hatte Simenon seiner Mutter Geld geschickt. Gebraucht hatte sie das Geld offenbar nicht oder sie hatte lieber gespart und ihre Armut gelebt, als dieses Geld anzurühren. In den sechziger Jahren gab sie das Geld ihrem Sohn, der wohl verblüfft war,  zurück. Ich würde dies übrigens als Affront ansehen, wen man mir nach Jahrzehnten Geschenke zurückgibt. Es zeugt von Stolz, keine Frage, aber auch von mangelnder Sensibilität. Schließlich gab sie das Geld einem Menschen zruück, der ihr nahestand (oder nahestehen sollte) und der auf das Geld nicht angewiesen war.

Kontakt

Der Kontakt zu seiner Mutter war nach seinem Weggang aus Lüttich locker: Simenon lebte in anderen Ländern, umgab sich mit einem anderen Menschenschlag. Schließlich waren auch die Entfernungen, die heute relativ nah erscheinen, in einer Zeit da wir mit Autos und Billigfliegern gesegnet sind, bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts Weltreisen. Eine Reise von Lüttich in die Vendée – das war schon was. Eine Reise mit dem Flugzeug nach Amerika, um den Sohn zu besuchen – nicht viele aus der Generation Henriettes dürften das erlebt haben. Aber auch wenn sie in Lüttich in ihrer eigenen Umgebung lebte, so gab es Kontakt mit ihrem Sohn. Er schrieb ihr Briefe, wenn gleich, wie er bekennt, nicht oft, da er sich nicht als guten Briefeschreiber bezeichnete

»Ich weiß nicht, ob die Briefe noch existieren, aber ich habe allen Grund anzunehmen, dass sie steif und geschraubt, ohne rechten Schwung waren…«

um im Anschluss die Begründung mitzuliefern, warum das so war:

»... denn wir waren niemals wirklich vertraut miteinander.«

War er in Lüttich, dann besuchte er sie selbstverständlich und bei offiziellen Anlässen war Henriette Simenon als Mutter des Schriftstellers mit zugegegen.

Gedankenlos

Bestimmte Gedanken sollte man nur denken, andere Gedanken sollte man nicht einmal haben. So meinte sie einmal zu ihrem ältesten Sohn:

»Wie traurig, Georges, dass gerade Christian sterben musste!«

Ich würde mich als erstes fragen, statt wem… aber ist das gerecht?

Simenon hatte sich diese Frage auch gestellt und kommt zu dem Schluss, dass seine Mutter es sich gewünscht hätte, wenn er zuerst verschieden wäre. Mit diesem Gedanken ist ein solcher Satz wenig mütterlich.

Vielleicht ist es ein Irrtum, mit einem »aber« oder einem »statt wem« zu denken. Wäre es nicht angemessen, zu betrachten, unter welchen Umständen Simenons Bruder ums Leben kam. Im Krieg sterben viele Leute. Wenn sich jetzt der Satz auf die anderen Soldaten bezöge? Dann wäre auch der darauf ausgesprochene Gedanke von Henriette, dass Christian immer so zärtlich und liebevoll gewesen wäre, zu relativieren. Denn Simenon stellt ihn so dar, als hätte seine Mutter unterstellt, dass er nicht liebevoll gewesen wäre oder ihr es nicht gezeigt hätte .

Nun gibt es von Simenon in dem Brief keine Andeutungen, dass es Christian in seiner Beziehung zu seiner Mutter besser ergangen wäre.  Hat er sie vielleicht Mama genannt oder auf ihrem Schoß gesessen? Simenon lässt sich darüber nicht aus. So ist es nur ein Gedankenspiel und ob die Worte von Henriette so gemeint gewesen waren, wie sie ihr Sohn interpretiert hatte, bleibt ungewiss.

Starrsinn

Henriette mochte schwach und zerbrechlich wirken, aber schon früh hatte sie es gelernt sich durchzusetzen. Désiré ihr erster Ehemann war passiv, seine Ruhe ging ihm über alles und sich in den Vordergrund zu spielen, war ihm fremd. Letztere Eigenschaft findet man auch bei Henriette nicht. Allerdings lag es ihr nicht, sich bevormunden zu lassen. Ein Beispiel dafür ist die eher komische Episode, in der Denyse – Simenons zweite Ehefrau – versuchte, ein altes und schäbiges Korsett ihrer Schwiegermutter zu beseitigen, diese sich das schon entsorgte gute Stück aber aus der Mülltonne wiederholte, immer und immer wieder.

Simenon hatte die Vorstellung, dass es gut wäre, wenn er seine Mutter zu sich in die Nähe von Epalinges, dem Wohnsitz der Simenons in den sechziger Jahren, holen würde. Das lehnte sie rundherum ab, sie wollte in kein Altersheim. Auch seine Vorschläge, eine Gesellschafterin einzustellen oder in ihrem Haus in Lüttich ein Bad einzubauen, lehnte sie strikt ab. Nur einen Fernseher akzeptierte sie nach langem Zureden (und genoss ihn, wie Simenon anmerkte). Nach der ersten Operation, die Henriette noch ein paar Monate schenken sollte, setzte Georges durch, dass sie in ein Heim käme und sorgte dafür, dass ihre Unterkunft mit einem kleinen Salon und einem eigenen Bad ausgestattet wurde. Dankbar war Henriette, wie man sich denken kann, nicht. Letztlich ist hier die eine wie die andere Warte verständlich. Man verpflanzt keine alten Menschen auf seine alten Tage in eine neue Umgebung. Ein Arzt hatte Simenon angekündigt, dass dies nicht gut für seine Mutter wäre. Letztlich stirbt der Mensch dann auch an seiner Entwurzelung. Simenon dagegen hatte die beste Pflege und das Wohlergehen seiner Mutter im Sinn. Leider korrespondiert das nicht immer miteinander.

Die zweite Ehe

Simenon spricht von der Erfüllung von Mädchen und Frauenträumen, wenn er von der zweiten Ehe seiner Mutter spricht. Für ihn war es selbstverständlich, dass seine Mutter Witwe war.

»Ich gestehe, dass mich das im ersten Moment schockierte. Ich hatte mir eine solche Verehrung für meinen Vater bewahrt, dass ich gar nicht an die Möglichkeit dachte, du könntest einen Ersatz für ihn suchen.«

Endlich, meinte Simenon, hätte seine Mutter die Pension in Aussicht gehabt, die sie so lang ersehnt hatte. Anfangs schien alles in bester Ordnung zu sein. Henriette Brüll lernte die Welt kennen, fuhr nach London und Nizza – alles mit Hilfe von Monsieur Andrés Freikilometern der Bahn. Das Leben sollte nicht so schön sein. Bald kehrte Misstrauen ein. Ein Misstrauen, dass Simenon literarisch sehr gut und brillant in dem Roman »Die Katze« verwertet hatte. Der neue Ehemann von Henriette verdächtigte sie, ihn nur geheiratet zu haben, um an seine Pension zu kommen und nun auf seinen Tod zu warten. Man ging dazu über, nur noch über Zettel miteinander zu kommunizieren.

»Jeder hatte Angst, dass der andere ihn vergiften könnte. Das war zu einer fixen Idee geworden.«

Keiner kam auf die Idee sich scheiden zu lassen. Für Henriette hieß es einfach nur durchzuhalten, sie hatte ihre Ziele noch immer erreicht. Simenon war darüber empört, dass sie sich nicht ganz von dem Namen ihres ersten Mannes löste, sie unterschrieb ihre Dokumente mit Madame André Simenon. (Vielleicht liegt ja auch der Gedanke nah, dass es ihr nicht um den Namen des ersten Mannes ging, sondern darum, dass ihr Sohn es war, der ihn berühmt gemacht hatte?)

Eines Tages fiel ihr Ehemann einfach so um, gefällt wie einst Désiré und die Zeit der Unannehmlichkeiten war vorbei. Aber sein Ärger darüber, dass seine Mutter den Namen von Désirés Familie während ihrer Ehe mit Père André behielt, sollte nicht der einzige für Georges bleiben. Viel mehr regte sich Simenon über das Ansinnen seiner Mutter auf, sich in der Gruft von Père André und seiner Frau beerdigen zu lassen. In ihm keimte die Frage auf, ob seine Mutter Désiré Simenon wirklich geliebt hatte. Den zweiten Ehemann hatte seine Mutter nicht geliebt, das stand für ihn fest.

Die letzten Absätze Simenons Brief sind recht versöhnlich, wenn dieser letzte Absatz nicht wäre, in dem Simenon noch einmal klar macht, wie er über seine Mutter denkt:

»Zwischen uns beiden war nur ein dünner Faden. Dieser Faden war dein leidenschaftlicher Wille, gut zu sein: zu den anderen, aber vielleicht vor allem zu dir selber.«

Die Beziehung zwischen Simenon und seiner Mutter mag das Werk des Schriftstellers sehr bereichert haben – glücklich machte die Beziehung beide nicht. Sie blieben sich ein Leben lang fremd: Misstrauen ist kein guter Beziehungsklebstoff.  Man wünscht keinem eine solche Mutter-Kind-Beziehung.

Vieles von dem, was man bei Simenon lesen kann, weckt keine Sympathie für Henriette. Leider kann man die Frau nicht endgültig beurteilen, denn einen Brief an ihren Sohn, der veröffentlicht wurde, gibt es nicht und somit hatte sie keine Möglichkeit, ihre Beziehung zu Georges zu schildern. Wären sie nicht miteinander verwandt gewesen, hätte jeder schnell seinen eigenen Weg beschritten. So klebten sie über den Faden »Verwandtschaft« aneinander.