Koffer aus Vulkanfiber

Zwei Koffer


In den uns vorliegenden Fall-Akten von Maigret, sie lassen sich auch Romane und Erzählungen nennen, gibt es einige Situationen, in denen der Kommissar fragwürdige Entscheidungen traf. Teilweise führten diese zu fatalen Ergebnissen. Ganz oben dürfte dabei sein Entschluss stehen, einem Mann von Brüssel nach Bremen zu folgen. Und diesem einen falschen Koffer unterzuschieben.

Dieses Manöver war an sich schon riskant: Woher sollte der Kommissar wissen, wie schwer der Koffer des Verdächtigen war? Er hatte sein Duplikat mit alten Zeitungen gefüllt, die konnten ein gewisses Gewicht auf die Waage bringen. 

Ein riesiges Glück hatte er gehabt, dass er einen Koffer kaufen konnte, der dem Verdächtigen glich. Interessant an der Beschreibung ist nicht, dass der Koffer eine gelbe Farbe hatte – das ist gewiss Geschmacksache und war bei der Beschaffung dem Unbekannten egal –, oder die Tatsache, dass er neu war (andernfalls hätte er sich einen Kauf gleich sparen können), wesentlich spannender ist das Material des Gepäckstücks:

Zu seinen Füßen stand ein kleiner gelber Koffer aus Vulkanfiber, wie man ihn in jedem Hausratsgeschäft bekommt.

Hausratsgeschäfte, der Begriff ist schon aus der Zeit gefallen, gibt es wohl noch vereinzelt. Dass in diesen Koffer verkauft werden, ist sehr unwahrscheinlich – dafür gibt es spezielle Läden und Kaufhäuser. Auch große Supermärkte bieten Reiseutensilien gern mal in Aktionen an.

Interessanter ist da schon das erwähnte Material. Wie jeder, der hin und wieder alte Filme schaut, weiß man, wie die Koffer aussehen. Sie werden dort gern von Pagen geschleppt und sehen so aus, als würden sie aus Karton bestehen. Nun kann Karton zäh sein, ein Großteil unseres Handels läuft nur noch dank dieses Materials. Aber als Gepäckstück an einem Flughafen möchten Touristen einen Karton-Koffer nicht haben.

Vermutlich werden ältere Leser:innen mit dem Kopf schütteln und sich über die Fragestellung wundern. Bin in die 50er-Jahre hinein wurden Koffer aus diesem Material in beachtlichen Stückzahlen produziert. Sie dürften dann lange Jahre genutzt worden sein. Ich hätte beinahe geschrieben, dass diese Koffer in meiner Kindheit keine Rolle mehr gespielt haben. Im hintersten Stübchen ist jedoch die Erinnerung an einen Kinderkoffer, der aus einem solchen Material gewesen sein konnte. Das ist kein Wissen, sondern nur eine Ahnung, vielleicht auch eine Fehl-Erinnerung. Gewiss ist eines – andere Kunststoffe hatten die Macht übernommen. Plastik galt nun als Werkstoff der Wahl und als modern.

Vulkanfiber hatte sich als Koffer-Stoff tapfer gehalten. Ein englischer Chemiker namens Thomas Taylor soll ihn erfunden haben und meldete ein Patent darauf an. Zu Hinz und Kunz finden sich Informationen, teilweise mit obskuren Details, aber zu diesem Werkstoff-Revolutionär gibt es außer Erwähnungen fast nichts. Sehr merkwürdig. Nachdem er das Verfahren 1859 erfunden hatte, erhielt er zwölf Jahre später ein Patent dafür in den Vereinigten Staaten. 1873 gründete sich das erste Unternehmen, welches die Fasern herstellte.

Ursprünglich wurde Baumwollpapier genommen. Dieses wurde in Zinkchlorid gebadet. Die Zellulose reagiert darauf, in dem es anschwoll und gelatinisiert. Sobald das Papier gesättigt war, wurde Druck auf dieses aufgebaut. Durch das Pressen kommt zu einem engen Kontakt der Zellulosefasern und die Zelluloseketten binden sich. Das Zinkchlorid wird im Anschluss wieder ausgewaschen. Abschließend werden die vulkanisierten Fasern getrocknet und gepresst. »Und fertig ist der Kunststoff«, könnte an der Stelle stehen, aber es soll angemerkt sein, dass dieser Prozess ein wenig komplizierter und aufwendiger ist, als das hier in einem Absatz beschrieben werden kann.

Was dann vorliegt, ist eine hundertprozentige Zellulosemasse. Es sind keine Spuren von Bindemitteln, irgendwelchen Klebstoffen oder Harzen zu finden. Der Vorteil ist, dass dieses Material sehr leicht ist, robust und elastisch. Haustürverkäufer in den USA bewarben Koffer aus diesem Stoff, in dem sie mit Pistolen auf diese schossen und die Kugeln dem beworbenen Objekt nichts anhaben konnten.

Fasern aus Vulkanfiber wurden nicht nur für die Herstellung von Koffern eingesetzt. Lange Zeit wurde der Stoff als Isoliermaterial verwendet. Noch heute finden sich die Fasern in Unterlegscheiben und Dichtungen. Auch in der IT der 1970er- und 1980er-Jahre waren sie nicht wegzudenken. Aus Vulkanfiber wurden die Leiterplatten hergestellt.

Der Vorteil des Stoffes ist, dass er nicht brüchig oder rissig wird und nicht korrodiert. Diese Eigenschaften haben Vulkanfiber wieder interessant werden lassen, nachdem er geraume Zeit aus dem Fokus verschwand – Kunststoffe aus Mineralölen waren präsenter.

In naher Zukunft ist nicht zu erwarten, dass es Koffer in moderner Anmutung aus Vulkanfiber geben wird. Wer einen solchen sein Eigen nennen möchte, sollte sich am besten in einem Trödelladen umschauen.

Maigret selbst erkannte, als er den Mann beim Kauf des Koffers beobachtete nicht, aus welchem Material der Koffer war. Auf gut Glück holte er sich das gleiche Fabrikat:

Gegen elf Uhr kaufte der Unbekannte in einem Laden in der Rue Neuve für zweiunddreißig Franc einen Koffer aus Lederimitat – oder gar Vulkanfiber-Imitat! Aus Jux kaufte Maigret einen ebensolchen, ohne zu überlegen, worauf das hinauslaufen sollte.