Unter Strom


Vor nicht allzu langer Zeit wurden hierzulande Verkehrsschilder geändert. Von dem Hinweiszeichen für Bahnübergänge verschwand die dampfende Lok, da diese heute im »Schienenbild« nur marginal vertreten sind. Richtig so, aber wie schaut es auf Buch-Covern von Maigrets aus? Auf der Red Eye-Ausgabe des Bergerac-Romans wurde Maigret mit einer Elektro-Lok abgebildet.

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Erster Reflex: Skandal! Ist das überhaupt möglich?

Antwort, etwas überraschend: Ja.

Zweiter Reflex: Wirklich?

Relativierende Antwort drauf: Nein, eher nicht.

Das bedarf einer Erklärung.

Reflex-Antwort

Wir reden immer noch von Fiktion. Das ist uns klar, nicht wahr? Würden wir die Geschichte in die heutige Zeit verlegen, dann würde Maigret in Paris in einen TGV einsteigen und in Richtung Süden sausen. Vollelektrifiziert.

Seine Weiterfahrt an seinen fiktiven Zielort misslang ihm bekanntlich und so landete er in Bergerac. Aber auch hier ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Strecke elektrifiziert sein wird. Schließlich ist über die Hälfte des Streckennetzes Frankreichs schon im E-Zeitalter angekommen.

Wäre also möglich, dass eine E-Lokomotive einen der Wagen zieht, in denen der Kommissar bei seiner Reise sitzt, wenn die Geschichte in der heutigen Zeit spielen würde.

Nun hat Simenon keine Science Fiction-Romane geschrieben, und so sollte davon ausgegangen werden, dass die Story in den 1930er-Jahren gespielt hat. Hieraus entstand mein Unbehagen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass damals schon … aber auch hier lag ich falsch. Die Elektrifizierung begann früher, als ich mir das gedacht hatte.

In Frankreich schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Zeit zwischen 1900 und 1920 kann getrost als die Ära der Experimente abgehakt werden. Es galt herauszufinden, mit welcher Spannung gearbeitet wird und wie der Strom zum Zug fand. Die Oberleitung, wie wir sie heute kennen, war nicht von Anfang an gesetzt.

Bemerkenswert ist, dass die Elektrifizierung nicht in urbanen Umgebungen in größerem Stil begann, sondern gerade in komplizierterem Terrain. Die Berglinien waren deshalb interessant für die Strom-Technik, da Dampfmaschinen mit der Höhenluft Probleme hatten. Deshalb fand man die Technik dort zuerst.

Erst dann begann man die »großen Linien« zu verstromen.

Nachfrage-Antwort

Damit beginnt der »Aber«-Bereich dieses kleinen Beitrags. Von Paris aus sollte zuerst der Süden elektrifiziert werden, auch hier spielten die Höhenunterschiede und die Probleme der Dampfmaschinen mit Höhe eine Rolle. Elektromotoren waren einfach effizienter.

Die erste große Strecke, die unter Strom stand, war Paris–Orléans, gefolgt von der Pariser Strecke nach Le Mans und schließlich von der Hauptstadt aus nach Lyon. Bei der Letzteren begann man nach dem Zweiten Weltkrieg.

Informationen, dass bis weit in den Süden zu der frühen Zeit Maigrets elektrifiziert wurde, ließen sich nicht finden.

Der Aber-Teil geht jedoch noch weiter. Auch die Strecke von Libourne, wo Maigret umstieg, nach Bergerac waren nicht elektrifiziert. Dass sie es heute nicht ist, ist nicht davon auszugehen, dass dies irgendwann einmal der Fall gewesen ist. Von Libourne aus kann in das Verrückten-Städtchen, wie es wohl Maigret-Liebhaber:innen nennen können, seit dem Jahr 1875 mit dem Zug gefahren werden. Eine Strecken-Stilllegung wurde in alle den Jahren nicht notiert.

Am richtigen Ort, am richtigen Platz

Die Illustration der Red Eye-Ausgabe funktioniert nur, wenn der Zuschauer sich vorstellt, dass Maigret sich weit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor diesen Zug gestellt hätte und das nicht an der Strecke Libourne–Bergerac.

Die Geschichten um Maigret leben von einer gewissen Nostalgie. Wenn sie etwas nicht sind – und man mag mich dafür schlagen –, dann modern. Sie sind durch und durch das Gegenteil. Ich habe in meiner Kindheit, fast noch Jugend, das »Vergnügen« gehabt, mit Zügen zu fahren, die von Dampflokomotiven gezogen wurden – und das nicht auf irgendwelchen nostalgischen Touristen-Strecken. Mochte Maigret die Zentralheizung in seinem Büro verdammt haben, weil er es liebte, mit dem Schürhaken in der Glut herumzuspielen, einer Elektrifizierung dürfte er aufgeschlossener gegenüber gestanden haben. Das ist jedoch eine Vermutung.

Und weil ich gerade bei dem Thema sind: Diese Nostalgie gegenüber Kohle-Öfen bringen üblicherweise nur Leute auf, die nicht in einem Mietshaus mit mehreren Etagen wohnen, und gezwungen sind, die Kohle aus dem Keller in die oberste zu schleppen, und die Asche wieder herunter. Dachgeschoss-Bewohner, die mit Kohle-Öfen ihre Wohnung warm halten müssen, hegen viel weniger nostalgische Gefühle für diese Art des Heizens.