Bildnachweis: French living room - Leonardo AI
Steht man drauf
In der Wohnung meiner Eltern hatten wir sie, in der Schule und auch in öffentlichen Gebäuden sowieso – zumindest während meiner Kindheit waren schlichte Bodenbeläge allgegenwärtig gewesen. Meine Erinnerung, die trügerisch sein mag, gaukelt mir vor, dass bei dem Bodenbelag von Linoleum gesprochen wurde. Eine Maigret-Geschichte führte dazu, dass ich es nun besser weiß.
Höre ich Linoleum, dann denke ich an Fußbodenbeläge und an Linolschnitt – diese Kunsttechnik, bei der man auf einem Stück Kunststoff rumratzt. Das Ergebnis soll etwas Hübsches sein. Im Nachlass meiner Eltern fand ich die Resultate meiner Versuche aus der Schulzeit nicht mehr. Heißt, dass wir das zu einem Zeitpunkt gemacht haben müssen, in der meine Erziehungsberechtigten die Hoffnung, dass ihr Erstgeborener eine Künstlerkarriere einschlagen würde, aufgegeben hatten. (Mein mangelndes Talent dafür betrübt mich viel weniger als die vielen Stunden, die ich da vergeudet habe, mit einem Menschen als Betreuung, der wohl eine künstlerische Ader hatte – dem ich aber jede Befähigung als Lehrer absprechen würde.)
Die Beobachtung
Dann kam der Kommissar und macht eine Beobachtung:
Maigret bemerkte, dass es in der Wohnung kein Badezimmer gab, sondern nur Waschräume, die seit Langem keine neue Tapete gesehen hatten und in denen alte Linoleumstücke den Fußboden bedeckten.
Linoleum = Kunststoff = neuer Krams? War diese Assoziationskette nicht korrekt?
Überhaupt nicht, wie ich mit Erschrecken feststellen musste. Ich hielt es für einen Kunststoff wie PVC. Und mit dem geht es schon los.
Entdeckt hatte den Stoff ein Franzose in einem deutschen Labor – Henri Victor Regnault war fünfundzwanzig Jahre alt und stellte fest, dass bei längerer Sonneneinstrahlung das von ihm hergestellte Vinylchlorid zu Polyvinylchlorid reagierte. Der junge Mann konnte nicht erkennen, wie dieses Pulver das moderne Leben verändern sollte. Über fünfundsiebzig Jahre später gelang es dem deutschen Chemiker Fritz Klatte einen Prozess zu entwickeln, wie man diesen Stoff industriell herstellen könnte, und nannte auch Anwendungsbereiche. Seine Vision, dass dies für Kunstfäden eingesetzt werden könnte, sollte vorerst nicht in die Tat umgesetzt werden. Nachdem Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland eine Rohstoffknappheit, die als Katalysator wirkte, sich mit diesem Stoff auseinanderzusetzen. Fünfzehn Jahre nach der Einreichung des Patents von Klatte wurde PVC durch BASF und später auch durch die I. G. Farben produziert.
In einem Roman, der in den 1940er-Jahren geschrieben wurde, konnten keine »alten Linoleumstücke« vorkommen – zumindest dann nicht, wenn man davon ausgeht (in meinem Falle ja nun »ausging«), dass Linoleum irgendwie was mit PVC zu tun hat. Mir fiel auf, dass ich alles, was ich mit Plastik assoziiere, in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einsortiere. Bei der »Koffer-Geschichte« war mir das ebenfalls passiert. Kunststoff mit Plastik gleichzusetzen, ist schlicht ein Fehler.
Für das Linoleum, das soll vorweggenommen werden, war der Aufstieg von PVC wie ein kleiner Tod. Wer möchte, kann seine Böden jedoch heute noch mit Linoleum auslegen.
Die Inspiration
Die meisten Leute sind nur in einer Sache gut. Schlimm ist das nicht, denn ein erklecklicher Teil der Menschheit kann auch gar nichts oder das komplett falsche. Schön ist es, wenn man sieht, dass es Menschen gibt, die in unterschiedlichen Bereichen sehr Bemerkenswertes auf die Beine stellen. Nehmen wir den Briten Elijah Galloway: Der baute 1846 die erste Kreiskolben-Dampfmaschine her. Die Maschine wird als »genial einfach« beschrieben. Dass sie sich nicht durchgesetzt hat, das soll nicht Thema sein. Bewundernswert ist, dass Galloway zwei Jahre zuvor Kamptulikon erfand. Darunter verstand man nicht eine Maschine, sondern es war ein neuartiger Bodenbelag, der aus Pulverkork und Naturkautschuk hergestellt wurde. Der Mann betätigte sich nur als Ingenieur, sondern auch als Chemiker – meinem Empfinden nach sind das zwei Bereiche, die nicht unmittelbar etwas miteinander zu tun haben.
Er würde sich wie dickes, weiches Leder anfühlen, meinten seine Fans, außerdem wäre es wasserbeständig und würde den Schall dämpfen. Diejenigen, die weniger angetan von Kamptulikon waren, mäkelten, dass die graubraune Farbe unattraktiv wäre. Rasch fand der Stoff Verwendung in öffentlichen Gebäuden wie Hotels und Kirchen. In psychiatrischen Kliniken wurden die Wände damit ausgeschlagen, um Verletzungen von Patienten vorzubeugen. In dem von 1840 an gebauten neuen Parlamentsgebäude in London soll es als Fußbodenbelag verwendet worden sein. Dagegen spricht, dass eine industrielle Produktion des Kunststoffes erst ab 1848 erfolgte; allerdings wurde der Bau erst 1870 fertig – und der Bodenbelag wird in einem Neubau nicht als erstes verlegt.
Wer kennt heute noch Kamptulikon? Das dürften wohl hauptsächlich Insider sein. Sein Niedergang wurde zum einen durch die erheblichen Preiserhöhungen für einen Grundstoff für seine Produktion, Naturkautschuk, bedingt und zum anderen durch einen günstigeren Stoff: Linoleum.
Für dessen Erfinder Frederick Walton war Kamptulikon die Inspiration gewesen …
Noch eine kleine Schleife
Stellen Sie sich vor, dass Sie auf dem Meer sind. Nicht als Passagier auf einem dieser monströsen Kreuzfahrtschiffe, sondern eher ein kleiner Kutter oder ein Segler. Draußen geht es rau zu und sie müssen auch dort sein. Gott sei Dank sind sie angeschnallt oder konnten sich gut festhalten, als eine Welle über die Reling schwappt und sie überschüttet.
In den gar nicht so guten alten Zeiten waren Sie in diesem Moment nass. Würde Ihnen das heute passieren, wären Sie verärgert und würden sich fragen, warum Sie nicht das richtige Zeug getragen haben. Denn Sie hätten die Möglichkeit gehabt, Kleidung anzuziehen, die wasserabweisend ist. Diesen Luxus hatten die Herrschaften in der Seefahrt nicht von Anfang an.
Das sogenannte Ölzeug (oder auch Öltuch) wurde aus Leinenstoff hergestellt und die Oberfläche wurde mit Leinöl imprägniert. Später wurde Kautschuk verwendet, um das Gewebe wasserdicht zu bekommen. Gekauft und immer so weiter genutzt? So lief das nicht! Das Zeug musste mit Ölen und Wachsen aufwendig und regelmäßig nachbehandelt werden.
Erst die Erfindung der Vulkanisation (von Charles Goodyear) ermöglichte es, Kleidung herzustellen, die dauerhaft wasserdicht war. Dieser industrielle Durchbruch führte zu dem erhöhten Bedarf an Naturkautschuk, der unmittelbare Auswirkungen auf den Preis hatte und somit der Kamptulikon-Herstellung das Genick brach.
Eine Erfolgsstory
Walton hatte etwas ganz anderes im Sinn. Er arbeitete in der Familienfirma und war damit beschäftigt, Farben für Ölzeugs zu entwickeln, die schnell trocknen sollten. Dabei stellte er fest, dass an einer Farbdose etwas Interessantes passiert war. Interessiert im chemischen Sinne natürlich. Erfand an der Farbe, die auf Leinölbasis hergestellt war, eine gummiartige Schicht. Offenbar war das Leinöl etwas oxidiert.
Er nannte es Linoxin und für diese Entdeckung gab es das erste Patent. Mitte zwanzig war Walton zu der Zeit und entschloss sich, seine Anteile an der Familienfirma zu verkaufen und ein eigenes Unternehmen zu gründen.
In der setzte er seine Experimente fort, denn nun wollte er das Linoxin auf Gewebe aufbringen, um einen Kunststoff zu entwickeln, der Kamptulikon Konkurrenz machen konnte. 1863 stellte er sein erstes Stück Linoleum her. Dieser Bodenbelag wurde nun aus Leinöl, Korkmehl und Jutegewebe hergestellt. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten wurde er aber bald ein Erfolg. Er hatte die gleichen Vorteile wie Kamptulikon und war deshalb für Krankenhäuser und Büros interessant.
Walton ging 1872 nach New York und gründete dort mit einem Kompagnon eine neue Firma, um Linoleum herzustellen. Er führte die Firma zwei Jahre. Hier zeigt sich ein Muster – der Mann gründete Unternehmen, ließ sie seine Innovationen herstellen und überließ das Führen der Geschäfte anderen. Er blieb Eigentümer oder behielt zumindest die Mehrheit an seinen Gründungen. Die Kontrolle übte er dann über den Aufsichtsrat aus.
Während seine Firmen damit beschäftigt waren, den Bodenbeläge herzustellen, tüftelte er weiterhin vor sich hin.
So blieb er auch nicht in Amerika, sondern zog zurück nach England.
Nachdem sein Patent 1877 ausgelaufen waren, war es mit den schönen Monopol-Zeiten bald vorbei. Zu attraktiv war es auch für andere Unternehmer an dem Erfolg zu partizipieren. Der Begriff »Linoleum« konnte er deshalb auch später nicht mehr als Markennamen durchsetzen, es war ein Gattungsbegriff für Bodenbelag geworden.
In dem Jahr, in dem das Patent für Linoleum ausgelaufen war, entwickelte er ein neues Produkt: Lincrusta hieß es und war dafür gedacht, Wände zu verkleiden. Genau genommen war es ein Linoleum für Wände. Für die Herstellung wurden von ihm eigene Werke gegründet, unter anderem in Hannover und Paris.
Sein Bodenbelag wurde von ihm Ender der 1880er-Jahre »gepimpt«. Linoleum ließ sich durch Waltons Straight-Line-Inlaid-Verfahren mit Mosaiken gestalten. Zuvor wurden Linoleum auch schon bedruckt, allerdings war dieses Dekor nicht beständig. Durch das neue Verfahren konnte Linoleum dekorativ verwendet werden und sorgte dafür, dass es in Wohnungen außerhalb von Küche und Bad als Bodenbelag Anwendung fand. In Deutschland gab es beispielsweise Ansätze, Elemente von Jugendstil und Art déco zu integrieren. Auch setzten moderne Architekten wie Walter Gropius auf den Bodenbelag, ihrer Stilrichtung entsprechend aber in der schlichten, undekorierten Variante.
Für Walton gilt das gleich wie für Elijah Galloway. Schaut man auf das Lebenswerk, dann fragt man sich, in welchen Bereichen er nicht gewildert hat. Der britische Erfinder hielt Patente für Flugzeugteile, Autoräder, Fleischextrakte und mehr. Würde das einem in den Sinn kommen, wenn man über einen Hersteller von Bodenbelägen redet. Diese Vielseitigkeit ist faszinierend!
Anfang der 1920er-Jahre zog Walton nach Nizza und schrieb ein Buch über die Geschichte von Linoleum. Ein paar Tage vor seinem 94. Geburtstag starb Frederick Walton 1928 bei einem Verkehrsunfall dort.
Niedergang und zarte Wiederbelebung
Linoleum war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig. Für die deutschen Fabriken war es nicht immer leicht: Für die Herstellung benötigte man Materialien, für die man auf Importe angewiesen war. Durch die Weltkriege wurde man von den Märkten abgehängt.
Die Produktion von PVC wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer günstiger, sodass der Einsatz von Linoleum – wie schon geschrieben – unattraktiver wurde. Die Weltproduktion ging von Anfang der 1960er-Jahre erheblich zurück. Erst zwanzig Jahre später gab es einen Anstieg in der Produktion. Der Grund hierfür war, dass der Bodenbelag als umweltfreundlich angesehen wurde, da er aus natürlichen Rohstoffen produziert wurde. Vergleicht man die gegenwärtige Produktionsmenge, so entspricht sie etwa 60% von dem, was Anfang der 1960er-Jahre hergestellt wurde. Der Anteil am Bodenbelag-Markt wird für Deutschland mit 7% angegeben.
Auf was ich während meiner Schulzeit in den 1980er-Jahren gelatscht bin? Gute Frage! Möglich, dass es Linoleum war; aber vielleicht war es auch PVC gewesen. Schließlich können die beiden Bodenbeläge leicht miteinander verwechselt werden.
Und was die Wohnung von Antoinette Le Cloaguen angeht, in der Maigret die Linoleumstücke sah: Da Linoleum zu dem Zeitpunkt schon ein alter Hut war, können sie durchaus auch alt gewesen sein.