Bildnachweis: Aufmacher in Paris Soir -
La Citanguette
Der Charme der Maigret-Geschichten besteht auch darin, dass die Lesenden dem Kommissar mit dem Finger auf der Landkarte folgen können. Das Vergnügen wird hin und wieder getrübt, weil Simenon fiktive Örtlichkeiten wählte oder, da sich das Rad der Zeit weitergedreht hat, die Lokalitäten verschwunden sind. So zum Beispiel bei dieser Schleuse, die erwähnt wird.
Ein Pariser Taxi fuhr durch den Schlamm eines holprigen Feldwegs zwischen Morsang und Fontainebleau, genauer gesagt zwischen der Schleuse von Morsang und der von La Citanguette. Es hatte schon vor zwei kleinen Gasthöfen gehalten.
Morsang ist uns vertraut. In so manchen Geschichten war der Kommissar samt Frau dort untergebracht. Aber auch die erwähnte Schleuse »La Citanguette« birgt einige sehr interessante Aspekte.
Festzuhalten bleibt, das ist nicht eine einmalige Erwähnung im Maigret-Universum war, sondern Simenon verwendete den Namen mehrmals und das sogar meist mit der gleichen geografischen Zuordnung.
Dass es mit der Ausnahme anfängt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
»Wo ist er?«
»Im Citanguette.«
»Citanwas?«
»Ein Gasthof bei Issy-les-Moulineaux … Ich schnappe mir jetzt ein Taxi und bringe Sie auf den neuesten Stand.«
[…]
»Erst einmal: Was ist das Citanguette?«, brummte der Kommissar. »Setz dich!«
»Eine Flussschifferkneipe am Seineufer zwischen Grenelle und Issy-les-Moulineaux.«
Wie unschwer zu merken ist, stimmt hier schon mal was. Zwischen Issy-les-Moulineaux und Morsang-sur-Seine liegen Luftlinie locker vierzig Kilometer. Meine Vermutung wäre, dass Simenon diesen Begriff in Morsang »aufgeschnappt« hat, ihn toll fand, und deshalb in »Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes« in einem anderen geografischen Kontext verwendet hatte. Zumindest fand Joseph Heurtin in diesem Gasthof ein Zimmer, in der er sich erst einmal verstecken konnte.
Was war zuerst da?
Mich hatte interessiert, was der Begriff bedeutet. Eine eindeutige Klärung ist mir nicht möglich. Während sich bestimmte Begrifflichkeiten, auch geografischer Natur, immer wieder auftreten, ist das bei diesem Wort nicht so. Mit viel Fantasie könnte man das Fragment »guette« aus diesem nehmen – damit wird in der Architektur ein Turm mit militärischer Bedeutung bezeichnet, den man mit »Wache« beschreiben kann – und könnte sich eine alte Wehranlage vorstellen. Diese Art von Einrichtung gehörte zu Schlössern und Burgen im Mittelalter.
Aufgrund der Tatsache, dass Schleusen in der Seine erst im 19. Jahrhundert gebaut worden sind, würde die Namensgebung dann von dieser Anlage stammen. Zumal es Abbildungen gibt, in denen von einem »Montagne de la Citanguette« die Rede ist.
Verortet werden kann dieser Berg in Saint-Fargeau. Ist man in dem Ort und geht diesen hinab, landet man an der Seine. (Die Behauptung sollte man mit Vorsicht genießen. Schließlich steigt man einen Berg herunter, könnte man ja auch auf einer ganz anderen Seite ankommen – aber ich würde vermutlich zum Fluss hinabsteigen). Eine Möglichkeit aus Saint-Fargeau zur Seine zu kommen, ist die Rue de la Citanguette. Vermutlich ist auf dem unten stehenden Bild dieser Weg abgebildet – die Straße wurde nicht explizit erwähnt. Der Blickwinkel ist ähnlich der vorherigen Abbildung, allerdings wurde dieses von der Eisenbahnbrücke aus gemacht – die Eisenbahnlinie verläuft hier mit der Seine parallel.
Was immer zuerst da war – im späteren Verlauf wurde »La Citanguette« gleichgesetzt mit der Schleuse, wie man auch an der Beschriftung von diesem Bild sehen konnte, von dem es hier nur ein Ausschnitt dargestellt wird:
Die Beschriftung dieses Bildes lautetet: Les Rives de la Seine – La Citanguette et Saint-Fargeau.
Der Gasthof
Die nächste Erwähnung fand die Gegend beziehungsweise der Gasthof in »Der Kahn mit den beiden Erhängten«. Den Kahn fand man in der Nähe von Coudray, aber Maigret vermutete, dass sich das Drama zwischen der vorhergehenden Schleuse und dieser abgespielt haben musste. Und das war nun mal »La Citanguette«. In der Erzählung steht dazu:
An der Citanguette hingegen gab es ein Bistro, und die Schiffer richteten es möglichst so ein, dass sie dort übernachten konnten. Es war ein echtes Seemanns-Lokal, in dem man Brot kaufen konnte, aber auch Konserven und Wurst, Taue und Hafer für die Pferde.
In der Erzählung wird auch der Bezug zu der Schleuse hergestellt. Nimmt man die Beschreibung wortwörtlich, so befand sich das Bistro in unmittelbarer Nähe der Anlage. Nun gibt es zwei Kandidaten, die einem in den Sinn kommen könnten.
Da wäre ein Gasthof mit dem Namen »La Citanguette«, welches sich mit der Ergänzung »Maison Bonnot« schmückt.
Schöner Name, schöne Location, soweit man sehen kann – allerdings gibt es einen Schönheitsfehler: Im Hintergrund zwischen dem Baum und dem Gebäude ist der Kirchturm von Saint-Fargeau in der Ferne auszumachen. Das spricht für eine gewisse Entfernung von der Schleuse. Es lässt sich einwenden, dass die Kähne recht lang waren und sich vielleicht die Seine entlang schlängelten. Aber diese sind auf den Abbildungen auch nicht zu sehen.
Der zweite Kandidat wäre ein kleineres Haus, in welches jedoch näher an der Schleuse gewesen war, das den gleichen Namen trug. Als Zusatz wurde ihm der Name »Maison Lucien Dechanet« gegeben.
Ich werde mich nicht festlegen: Schließlich mag es ganz andere Restaurants und Gasthöfe gegeben haben – die Gegend galt als Erholungsgebiet für die Pariser. Die Tatsache, dass es hier Abbildungen gibt, sagen nicht viel aus – eine genaue Datierung ist sehr schwierig. Außerdem kann ich mir weder das eine Haus noch das andere als »Seemannskneipe« vorstellen, was aber dran liegen wird, wie ich mir solche Schenken vorstelle. Zur Wahrheit gehört auch, dass da nicht Massen von Schiffen vor Anker gegangen sind, weshalb die Räumlichkeiten gerade des Maison Lucien Dechanet ausgereicht hätten, um die Schiffer zu bedienen. Frische Milch gab es offenbar auch …
Das »Maison Lucien Dechanet« ist meines Erachtens auffindbar, auch wenn es erweitert worden ist. Um nochmals komplett in den Spekulationsmodus abzutauchen, habe ich eingezeichnet, wo die beiden Häuser zu verorten sein könnten:
Die Schleuse
In der »La Presse« vom 19. Februar 1861 ist folgende Ankündigung zu lesen:
Der Damm von Port-à-l'Anglais, dessen bevorstehender Bau kürzlich angekündigt wurde, ist kein isoliertes Werk, wie man vielleicht denken könnte: Er gehört zu einem Schleusensystem, das für die Kanalisierung der Seine von Montereau bis Paris eingerichtet wurde. Dieses System besteht aus zwölf Stauschleusen, deren Abdeckungen zweihundert Meter lang und zwölf Meter breit sein werden, und die folgendermaßen verteilt sind: in Varennes, flussabwärts von Montereau; bei La Madeleine, 5.500 Meter weiter etwas flussabwärts von Melun; bei Citanguette, in der Nähe von Sainte-Assise; bei Le Coudray, in der Nähe von Morsang; bei Évry, in der Nähe von Corbeil; bei Ablon und Port-à-l'Anglais. Die Dämme, die an die Schleusen angrenzen, sind erhöht, und die Überläufe sind mit automatischen Hebewerken ausgestattet (sie heben sich von selbst), nach dem System des Chefingenieurs für die Schifffahrt auf der Seine, oberhalb von Paris, Abschnitt Nr. 1. Diese zwölf Stauschleusen sind alle vergeben, und drei befinden sich seit einem Jahr im Bau, nämlich die in Champagne, Melun und Évry; was die Bauarbeiten der anderen neun betrifft, so werden sie entlang der gesamten Linie beginnen, sobald es das Wetter und der Zustand des Flusses zulassen.
Somit haben wir einen ersten Anhaltspunkt, wann die Planung und der Bau der Anlage in Saint-Fargeau begann. Mit dem Ausschnitt beantwortet sich auch die Frage von selbst, ob die Schleuse der Gegend ihren Namen gab oder nicht. Offenbar war das nicht der Fall, weshalb ich noch einmal auf meine Spekulationen verweise.
Drei Jahre später gab es eine Erwähnung, dass die Schleusenanlagen an der Seine in Betrieb wären und 1872 folgte die Meldung, dass man den Leichnam eines Fouriers gefunden (was ein Nachschlagen bedingte, denn als Wehrdienstverweigerer war mir nicht klar, dass damit jemand gemeint war, der sich mit Logistik befasste – üblicherweise mit mililtärischer). Damit ist der namenlos gebliebene Mann der erste, der als Wasserleiche die Schleuse in die Nachrichten brachte.
Ob man an der Stelle nun Baden sollte oder es besser unterlässt, kann ich nicht sagen. Zu Schleusen-Zeiten konnte es gefährlich sein, wie eine Meldung vom 18. Juli 1902 zeigt, die in der »La République française« erschien:
Vorgestern, gegen vier Uhr, badeten ein Mann und eine Frau in der Seine, an der Stelle genannt La Citanguette, unterhalb Saint-Fargeau (Seine-et-Marne), gegenüber einer kleinen Gaststätte, die von einem tüchtigen Mann namens Emile Leduc geführt wird. Plötzlich ertönt ein durchdringender Schrei, und die Gäste, die auf der Terrasse der Gaststätte sitzen, sehen, wie sich vier Arme verzweifelt über dem Wasser bewegen und dann abrupt verschwinden. Es waren die beiden Badenden, die am Ertrinken waren. Leduc springt auf, eilt zum Fluss, taucht ein, und einige Sekunden später taucht er wieder auf, die beiden Unvorsichtigen an die Oberfläche bringend, die noch atmeten. Eine Minute mehr, und es wäre zu spät gewesen. Der Betreiber der Citanguette ist für solche Taten bekannt; und dieser neue Akt des Mutes und der Hingabe verdient es, hervorgehoben zu werden.
Stellt sich natürlich die Frage, welchem »Maison« dieser Emile Leduc angehörte. Eine Wasserleiche später tauchte der Name »Citanguette« in einem völlig anderen Zusammenhang auf. Gabrielle de Luza, so wird es in der »Comœdia« vom 24. August 1908 erwähnt, würde in einer Operette die Baronin de la Citanguette geben. Das Stück mit dem Namen »Mam’zelle Trompette« wurde von Théophile Hirlemann komponiert, die Texte stammten von Maurice Desvallières und Paul Moncousin. Die Kritik beschrieb die Operette als lebendig und unterhaltsam, ideal für die Zuschauer der »Folies-Dramatiques«. Über die Produktion wurde gesagt, dass sie sich durch mitreißende Musik und eine fantasievolle, aber unkomplizierte Erzählweise auszeichnete und dabei das Publikum in guter Stimmung hielt. Regie und Darbietungen wurden für ihre Spritzigkeit und ihr Talent gelobt. Eine große Verbreitung hat das Stück nicht gefunden. Bis 1912 fanden sich Erwähnungen (allerdings an anderen Orten und anderer Besetzung), danach war wieder die Schleuse das Thema und Leblose, die man an ihr und in der Nähe auffand. Vermutlich müssen wir darauf warten, dass man einer KI die Partitur vorwirft und er dann die Musik – einschließlich Gesang – fabriziert, um es zu hören. Die Noten sind frei verfügbar.
Im April 1938 wird es wieder richtig interessant: An der Schleuse fand man den Leichnam eines Mannes, der in einem Koffer ohne Beine und Kopf aufgefunden worden war. Nun war »La Citanguette« wirklich in den Nachrichten. Sie wurde nicht nur in einer Meldung erwähnt, sondern Reporter wurden an den Ort des Geschehens geschickt, um zu berichten. Die nächsten Tage brachten aber nur magere Indizien ans Licht und die Journalisten begnügten sich damit, jenes wiederzugeben, was ihnen die Staatsanwaltschaft und die Gerichtsmedizin verraten hatte. Mittlerweile war man sich einigermaßen sicher, in welchem Lebensjahrzehnt der Tote gestanden hatte, bevor es ihn erwischte. Die Experten waren der Meinung, dass die Beine von einem Spezialisten vom Körper abgetrennt worden waren. Und dann kam der Knaller, nämlich Frage: »Handelt es sich bei der Leiche um Richnowsky?«
Wie kamen die plötzlich auf diese Spur und wer war der Richnowsky? Man erfährt nicht viel, außer, dass es ein amerikanischer Jude war, der verschwunden war. Der Fall war von Kommissar Petit von der Ersten Mobilen Brigade übernommen worden – die uns als die Einheit vertraut ist, in der Maigret anfangs agierte, beispielsweise in diesem Fall. Besagter Petit war der Meinung, dass er einiges aus dem Fall um den verschwundenen Mann wieder erkennen würde. Die Ermittlungen in dem Fall kamen nicht voran, und die Presse fing an, einzelne Zeugenaussagen (wie immer sie an diese kamen) auseinanderzunehmen, zu bestätigen oder zu widerlegen. In diesem Fall nahmen sie die Aussage einer Frau unter die Lupe, die behauptet hatte, dass wäre der Koffer ihres Vaters. Und als eine Art Sachverständigen zogen sie einen Angler heran. Man kann nur hoffen, dass die zuständigen Herrschaften der Polizei die Berichte in der Presse nicht lasen.
Dann war plötzlich Ruhe. Die Spuren waren kalt oder verwässert. Erst am 25. August wurde der Fall (und damit die Schleuse) wieder erwähnt. Ein weiterer Leichnam wurde entdeckt, allerdings an anderer Stelle. Aber die Handschrift des Mordes war identisch. Ein guter Grund für die Presse, sich zu fragen, ob nun eine weitere amerikanische Erfindung Einzug in Frankreich gehalten hatte – die des Serienmörders.
Möglich, dass man den Mörder oder die Mörderin fasste, vielleicht wurde er auch im Laufe des Zweiten Weltkrieges getötet – es wurde offenbar keine ausgeprägte Serie. Für die Seine-Morde wurde niemand von der Justiz belangt. Über die Jahre wurde es ruhig um die Schleuse. Dass immer mal wieder Ertrunkene angeschwemmt und gefunden werden, gehört zu solch einem Wehr, das ein Hindernis darstellt.